Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
von seiner Tragik. Gebärdete sich unterwürfig und reizte ihn damit nur noch mehr. Lächelte ihn zaghaft an, im völlig falschen Moment, sagte mit Zitterstimme irgendwelche Dinge, die total daneben waren… Kein Wunder, daß er ihr irgendwann eine reinhaute. Und damit war der Damm gebrochen. Vermutlich gab es irgendwann auch kaum noch etwas im Haus, das er kaputtmachen konnte. Nur noch seine Frau.
Evelins Mutter.
Die Frau muß heute ein Meisterstück chirurgischer Kunstfertigkeit sein, denn es gibt wohl so gut wie nichts in ihrem und an ihrem Körper, was ihr Mann nicht zerschlagen hätte und was nicht von den Ärzten wieder zusammengeflickt worden wäre. Das Nasenbein zertrümmert, sämtliche Rippen, Finger, Handgelenke, Schlüsselbein gebrochen, die Zähne ausgeschlagen; sie war wegen eines Milzrisses im Krankenhaus, wegen mehrerer Gehirnerschütterungen, wegen eines geplatzten Trommelfells, und schließlich wäre sie noch fast verblutet, nachdem er ihr ein Messer in den Oberschenkel gerammt hatte. Ich vermute, daß sie von den Ärzten heftig gedrängt wurde, ihren Mann anzuzeigen, aber da er nie zur Rechenschaft gezogen wurde, deckte sie ihn wohl beharrlich. So sind diese Art Frauen. Ich habe genügend davon unter meinen Patientinnen. Die würden noch mit
einem Bauchschuß auf allen vieren ins Krankenhaus robben und erklären, den hätten sie sich beim Reinigen einer Waffe versehentlich selbst zugefügt.
Es ist keineswegs so, daß mir Evelin dies alles einfach erzählte. Sie schwärmte nur von dem verwinkelten, romantischen Haus und dem herrlichen Garten und hielt an der Überzeugung fest, ihr Vater sei ein genialer, aber verkannter Schriftsteller gewesen.
»Er hatte nie Geld«, sagte sie einmal, »und ich glaube, darüber ist Mama depressiv geworden.«
Daß ich nicht lache! Die Alte ist keineswegs depressiv, wie ich heute weiß. Schließlich bin ich in der Branche nicht ohne Verbindungen, und ich habe Erkundigungen eingezogen. Meine Schwiegermutter sitzt im Irrenhaus, das ist die Wahrheit. Mein Schwiegervater hat ihr das Spatzenhirn aus dem Kopf geprügelt, und man mußte sie einsperren, weil sie sonst zu einer Gefahr für die Allgemeinheit geworden wäre. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist, brabbelt konfuses Zeug vor sich hin, und sowie sie die Gelegenheit hätte, würde sie alles anzünden, was ihr in den Weg kommt: Häuser, Autos, Bäume, Tiere. Sie faselt etwas von der reinigenden Kraft des Feuers. Zum Glück wird kein Arzt der Welt sie dort, wo sie jetzt ist, wieder rauslassen.
Vor ein paar Jahren - es muß gewesen sein, kurz bevor Evelin damals schwanger wurde - hatte der gute Dr. Wilbert seinen entscheidenden Durchbruch in Evelins Therapie. Evelin erinnerte sich plötzlich der Hölle, in der sie groß geworden war, beziehungsweise sie hörte auf, die Erinnerung zu verdrängen. Es war wohl so, daß sie immer wieder davon gesprochen hatte, ihre Kindheit im wesentlichen in der Küche ihres Elternhauses verbracht zu haben, und im wesentlichen hieß in diesem Fall: außerhalb der Schulzeit praktisch jede Minute. Heute ist sie ein Fettkloß, und eine solche Aussage entbehrt nicht einer gewissen Komik, aber wie ich sagte, ich lernte sie als ein ziemlich dünnes Ding kennen, und auf den paar Fotos, die es aus ihren Kinderjahren
gibt, sieht sie fast unterernährt aus. Sie kann sich kaum mit Fressalien vollgestopft haben, es sei denn, sie wäre an Bulimie erkrankt gewesen, was ich zeitweise vermutet hatte und womit ich - offen gestanden - falsch lag.
Jedenfalls stellte sich nun also heraus, daß die Tatsache, daß man in jenem Haus durch die Küche in den Garten hatte gelangen können - früher wurden Häuser häufig so gebaut -, von entscheidender Bedeutung war. Irgendwie hatte Evelin wohl in ihren Therapiestunden immer wieder einen Zusammenhang hergestellt zwischen ihren Aufenthalten in der Küche und der romantischen, steinernen Treppe, die von dort in den Garten führte. Aber es brauchte Jahre, bis sie sich der Tatsache stellte, daß sie in der Treppe ihren einzigen Fluchtweg gesehen hatte, wenn ihr Vater die Kontrolle über sich verlor und ihre Mutter binnen weniger Minuten in ein zerschlagenes, wimmerndes, um Erbarmen flehendes Bündel Elend verwandelte. Evelin saß zitternd in der Küche, sprungbereit, die Tür im Auge.
So war es gewesen. Und nun wußte sie es. Und mußte sehen, wie sie damit fertig wurde.
Sie ging in dieser Zeit noch öfter zu Wilbert, so oft, daß ich ernsthaft überlegte, ihr
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