Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Fressen. Natürlich verstärkten sich auch ihre Depressionen, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Aber seit gut einem halben
Jahr ist da etwas anderes, etwas, das selbst ich, der ich tief vertraut bin mit jedem nur denkbaren Aspekt der menschlichen Psyche, kaum auszuloten vermag.
    Ich würde es vielleicht so beschreiben: Etwas arbeitet in Evelin. Etwas in ihr ist angestoßen worden, ein Gedanke, eine Idee, eine Vorstellung, ein Bild. Dieses Etwas hat sich in Bewegung gesetzt und geht seinen Weg. Möglicherweise kann Evelin es nicht mehr steuern, zumindest kann sie es vermutlich nicht mehr anhalten.
    Es ist spürbar. Ich sehe die Veränderung in ihren Augen. Ich höre sie in ihrer Stimme. Ja, fast kann ich sie riechen. Evelin riecht anders. Sie hat immer nach Angst gerochen, was mich ungemein stimuliert hat, aber nun mischt sich etwas Neues in ihren Geruch. Möglicherweise sind es erste Ansätze von Rebellion.
    Rebellion und Evelin sind zwei Begriffe, die einander ausschließen, und da beginne ich vielleicht, mich so unwohl zu fühlen. Es gibt Tiere, die, wenn sie anhaltend gequält, ihrer natürlichen Lebensform entrissen und in depressives Erdulden gezwungen werden, ihren Selbstmord planen. Sie beschließen zu sterben, und sie setzen diesen Entschluß mit erstaunlicher Konsequenz um. Sie hören auf zu essen und zu trinken, legen sich in eine Ecke und warten auf den Tod. In all ihrer Unfreiheit, ihrer Entrechtung, ihrer Unterdrückung erobern sie sich damit ihr Recht auf Selbstbestimmung, ja ihre Würde zurück. Instinktiv begreifen sie, daß ihnen in all ihrer scheinbaren Auswegslosigkeit dieser eine Weg bleibt. Sie triumphieren über ihre Peiniger. Sie berauben sie jeglicher Macht über sie.
    Ich glaube, etwas Ähnliches an Evelin zu sehen. Zweifellos verspricht sie sich vom Leben keine Verbesserung mehr, und es mag sein, daß ihre Gedanken eine Richtung einschlagen, die ihr Erlösung und mir eine besondere Qual bringen soll. Mit einem Suizid, so mag sie sich vorstellen, würde sie ihr größtes Problem - das Leben - lösen, und zugleich - und einen derart perfiden
Gedanken traue ich ihr bei all ihrer Naivität durchaus zu - würde sie mir einen Schlag versetzen, von dem mich zu erholen ich viele Jahre brauchen würde: Sie entzöge mir die Kontrolle über sich. Sie wäre unerreichbar für mich. Ich müßte in dem Gefühl leben, ein Verlierer zu sein, keine Chance zu haben, die Situation wieder zu meinen Gunsten umkehren zu können. Am Ende hätte sie gewonnen.
    Ich beobachte sie sehr genau. Ständig und in höchster innerer Alarmbereitschaft. Selbstverständlich höre ich nicht auf, ihr zu sagen oder zu bedeuten, wer sie ist und was sie ist. Ich glaube, in hundert Jahren könnte ich damit nicht aufhören. Vielleicht kitzelt mich im Moment auch das Gefühl, eine Situation bis zum Äußersten auszureizen. Ich gehe an die Grenze. Wanns treibe ich es zu weit? Wann tut sie den Schritt, den ich fürchte und den herbeizuführen ich doch mithelfe?
    Könnte es mir eine Befriedigung geben, derjenige zu sein, der den Auslöser betätigt? Wäre ein Selbstmord Evelins dann noch ein Selbstmord? Wäre er nicht in Wahrheit von mir gesteuert?
    Ich kann Dinge sagen, die sie in den Wahnsinn treiben. Tue ich es, kann ich dann glauben, ich habe sie bis zuletzt gelenkt?
    Wie schwer ist es, dies vorauszusehen. Wie unsagbar schwer.
    13
    Sie hatte in die Gedankenwelt eines Geisteskranken geblickt, und ihr war schwindlig geworden angesichts des Abgrunds, der sich vor ihr auftat.
    Sie saß unter den Apfelbäumen im Gras, an diesem überirdisch schönen englischen Frühsommertag, ein paar Bienen brummten um sie herum, Schmetterlinge und gepunktete Junikäfer schaukelten durch die Luft, und die Idylle war von einer beinahe unwirklichen Vollkommenheit.

    Sie aber hatte dem Grauen selbst in seine angsterregende Fratze geschaut.
    Was Alexander und Leon, seine Freunde, anging, so hatte Tim Gift und Galle gespuckt, er hatte die Menschen, die er seit frühester Jugend kannte, lächerlich gemacht, erniedrigt, hatte in ihren Wunden gebohrt, hatte ihre Schwachstellen voller Genuß analysiert, war abwechselnd zynisch, roh, brutal oder auch nur einfach gemein gewesen. Von einer Warte abscheulicher Überheblichkeit aus hatte er mit einem häßlichen Grinsen, das zwischen allen Zeilen erkennbar durchblickte, das Material seziert, das er vor sich ausgebreitet hatte, und wenn ein einziges Gefühl für seine Freunde bei all dem übrigblieb, so war es

Weitere Kostenlose Bücher