Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Verachtung. Tiefste, in ihrer Kälte schockierende, grausame Verachtung.
»Ich weiß nicht, ob ich das lesen möchte«, hatte sie abgewehrt, als Evelin ihr die Papiere auf den Schoß schob und aufstand, aber Evelin hatte in einer für sie ungewöhnlichen Festigkeit, die keinen Widerspruch zu erlauben schien, darauf beharrt.
»Lies es. Lies wenigstens du es. Damit einer weiß, mit wem ihr es zu tun hattet.«
»Hast du es denn schon zu Ende gelesen?«
»Nein. Aber ich weiß genug. Wer die ersten Seiten kennt, kennt auch den Rest.«
»Wohin gehst du?«
»Ich will ein paar von meinen persönlichen Sachen im Haus zusammenpacken. Heute oder morgen werden wir dann nach Deutschland zurückfliegen, und ich komme sicher nie wieder hierher.«
»Du hast deinen Schlüssel noch? Die Polizei hat das Haus aber noch nicht freigegeben!«
Zu Jessicas Überraschung hatte die für gewöhnlich äußerst obrigkeitshörige Evelin nur mit den Schultern gezuckt. »Na und? Ich möchte die Dinge haben, die mir gehören. Die Polizei hat ohnehin einiges an mir gutzumachen.«
Sie war in Richtung des Hauses davongegangen, aufrechter als
sonst, und Jessica hatte gedacht: Ihren Mann zu enttarnen gibt ihr Kraft. Die Gerechtigkeit, die sie zu finden hofft, macht sie stärker.
Tim war ein Psychopath gewesen, das war Jessica nun klargeworden. Das Unbehagen, das sie ihm gegenüber stets verspürt hatte, hatte sie nicht getäuscht. Er war krank gewesen, wirklich krank. In absurde Ideen und Vorstellungen verstrickt, von dem Wahn besessen, andere Menschen manipulieren und bestimmen zu müssen. Er hielt sich für einen begnadeten Psychologen - und war in Wahrheit ganz und gar beherrscht gewesen von seinen eigenen Neurosen, Begierden und Ängsten. Er hatte weder Freunde noch eine Lebenspartnerin gebraucht, sondern lediglich Opfer gesucht. Er hatte diese Opfer eng um sich scharen, sich ihrer ständig vergewissern müssen. Im nachhinein war Jessica fast überzeugt, daß die zwanghafte Nähe unter den Freunden in Wahrheit von Tim gesteuert worden war, wenn auch zu subtil, als daß es spürbar gewesen wäre. Leon und Alexander waren einfach ideal gewesen für ihn, ideales Futter für seine Bedürfnisse: Leon, der von seiner Frau untergebuttert wurde und es nicht schaffte, beruflich etwas auf die Beine zu stellen; und Alexander, der noch als Vierzigjähriger vor seinem Vater zitterte und dem die Frauen wegliefen.
Opferlämmer, genau wie Evelin. Menschen, die es nicht schafften, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Tim hatte sich geweidet an ihnen, war ihnen mit väterlichen Ratschlägen beigesprungen oder auch einmal mit einer echten Hilfeleistung, wie im Falle Leons, dem er ein ansehnliches Darlehen gewährt hatte, um ihn später genau damit immer wieder zu demütigen. Sie erinnerte sich, wie sie die beiden am ersten Abend der Osterferien durch den Park hatte kommen sehen. Leon, der heftig - wie sie heute wußte: verzweifelt - auf Tim einredete. Und Tim, der mit finsterer Miene lauschte, schweigend, dem anderen in seiner Not mit keinem versöhnlichen Wort, mit keiner Geste entgegenkommend. Welch eine tiefe Labsal mußte es für ihn gewesen sein. Dafür
hatte er vermutlich sogar einen möglichen Verlust seines Geldes gern hingenommen.
Aber sich wirklich ausgelebt, das perfide Spiel auf die Spitze getrieben, hatte er bei Evelin. Eine junge Frau, gerade dem Martyrium einer von schrecklicher Gewalt beherrschten Jugend entflohen, begab sich in seine Hände, um nach allem, was ihr widerfahren war, ein neues Leben zu finden, geheilt zu werden von ihren Ängsten und Heimsuchungen, während er in ihr nur das perfekte Opfer sah, das Wesen, auf das er gewartet hatte, um seine eigenen Krankheiten ausleben, seine perversen Neigungen befriedigen zu können.
Es erschien ihr unfaßbar, wie ein Mann, der in seiner Frau - oder in irgendeinem anderen Menschen - Anzeichen einer ernsten Suizidgefahr zu erkennen glaubte, dies in allererster Linie als eine Gefahr für sich selbst werten konnte: als Gefahr, sein Opfer zu verlieren, das es möglicherweise wagen würde, sich seiner Tyrannei durch diesen letzten, verzweifelten Schritt zu entziehen. Tim hatte offenbar vor allem die Frage beschäftigt, ob es ihm gelingen könnte, diesen Schritt zu steuern. In seinem Wahn hätte ihm dies ein Triumphgefühl geben, eine Bestätigung, daß Evelin sein Geschöpf war und sich ihm bis zum Ende nicht hatte entziehen können.
Sie schauderte vor Ekel, schob die Papiere in die Hülle
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