Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
zurück. Den Teil, der mit Jessica, Dokument V überschrieben war, hatte sie nicht gelesen. Sie wollte nicht wissen, was Tim über sie gedacht hatte. Sie wollte sich nicht übergeben müssen.
Sie erhob sich. Sie hatte so lange völlig verkrampft im Gras gesessen, daß ihr die Knochen weh taten, und mit einem leisen Seufzen reckte und streckte sie sich.
Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Sie sah auf die Uhr. Es war zehn vor eins, fast eine Stunde lang hatte sie gelesen. Von Evelin hatte sie nichts mehr gesehen oder gehört.
Das Haus, an dessen Westseite sie sich befand, erschien ihr plötzlich bedrohlich in seiner völligen Stille. Dunkel und düster
erhob es sich vor dem blauen Himmel. Hinter den Fenstern war nichts zu erkennen, kein Schatten regte sich, kein Vorhang bauschte sich. Alles wirkte leer und verlassen. Als sei kein Mensch mehr in der Nähe.
Sie fragte sich, ob Evelin so lange packen konnte. Ein paar von meinen persönlichen Sachen, hatte sie gesagt. Warum war sie nicht längst wieder erschienen? Oder saß sie da drinnen irgendwo, starrte die Wände an, erinnerte sich der Dinge, die in diesem Haus geschehen waren, der Stimmen, die sie gehört, der Bilder, die sie gesehen hatte? Bewegte sie sich durch die Räume wie schlafwandelnd, benommen von all dem, was sich hier abgespielt hatte?
Auf einmal bekam sie Angst. Was, wenn Tim recht hatte? Wenn Evelin tatsächlich selbstmordgefährdet war? Wenn sie den Gedanken an ein Ende vielleicht schon lange mit sich herumtrug und nur wartete … ja, worauf?
Jessica starrte auf die Papiere, die sie noch in der Hand hielt, und plötzlich dachte sie, ob es das war. Ob Evelin nur darauf gewartet hatte. Auf eine Gelegenheit, an die versteckten Aufzeichnungen heranzukommen und sie weiterzugeben. Vielleicht hatte sie nicht gehen wollen, ohne die Wahrheit über ihren Peiniger ans Tageslicht zu bringen. Die dicke, durchgeknallte Evelin, die am Schluß hinging und sich aufhängte - wenigstens hatte sie vorher noch dafür gesorgt, daß der Mann entlarvt wurde, der sie dahin getrieben hatte.
Sie wollte um das Haus herumlaufen, wollte die Tür aufreißen, wollte die Treppe hinaufrennen, so schnell sie konnte, aber ihre Füße bewegten sich nicht vom Fleck. Sie stand wie angewurzelt, stand im Gras unter den Apfelbäumen, starrte die Hauswand an, gepeinigt von einem Bild, das sie vor sich sah: Evelin dort drinnen, Evelin, die nie vorgehabt hatte, ihre Sachen zu packen, die so aufrecht und entschlossen wie noch nie davongegangen war, die eine feste Stimme und einen klaren Blick gehabt hatte, die völlig verändert gewesen war.
O Gott, ich kann da nicht reingehen, dachte sie entsetzt, ich kann nicht schon wieder in dieses Haus gehen und jemanden finden, der tot ist, ich ertrage es nicht noch einmal, ich kann nicht den nächsten Alptraum erleben, ohne den letzten verkraftet zu haben …
Sie atmete tief durch, bemühte sich, ruhiger zu werden und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war dabei, die Nerven zu verlieren, und das war das Dümmste, was ihr im Moment geschehen konnte.
Ich weiß ja nicht, ob sie sich etwas angetan hat. Ich vermute es nur. Ich habe keine Ahnung.
Natürlich spielte ihre Phantasie ihr einen Streich. Was gab sie eigentlich auf das wirre Geschreibsel eines toten Psychopathen?
Aber sie ist depressiv. Das wußte ich von Anfang an. Ich habe mir immer Sorgen um sie gemacht. Ich habe nie verstanden, warum die anderen es nicht bemerkten.
Sie hob die Stimme und rief ein paarmal Evelins Namen. Nichts rührte sich, niemand antwortete. Leise raschelte der Wind in den Zweigen der Bäume.
Es war wie verhext, es gelang ihr einfach nicht, in das Haus zu gehen. Der Schweiß brach ihr aus, und ihre Knie schienen plötzlich aus Pudding. Sie kam nicht von der Stelle.
Wenn nur jemand da wäre. Irgend jemand, Leon vielleicht, oder sogar Ricarda. Jemand, der ihr Mut zusprechen und die scheußlichen Gedanken vertreiben würde.
Komm, mach dich nicht verrückt. Evelin steht da oben in ihrem Zimmer, sucht ihre Sachen zusammen, trödelt, blättert in Büchern, schaut alte Fotos an, vergißt die Zeit. Geh jetzt einfach rein und sag ihr, daß du zurück ins Dorf möchtest.
Aber es war niemand da. Niemand redete ihr gut zu. Sie war allein, genau wie an jenem Tag. Sie war schon wieder ganz allein.
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die kalte, feuchte
Stirn. Sie konnte hier stehenbleiben und warten, daß Evelin irgendwann herauskam, aber wenn die Freundin dabei war,
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