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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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hinten. Er hört mich nicht kommen. Er ist versunken in seine Gedanken. Ich glaube, ich könnte schreien, aber er würde mich nicht hören.«
    »Alexander«, flüsterte Jessica. Ihre Ohren begannen zu rauschen, ihr Mund fühlte sich strohtrocken an. »Bitte, nicht weiter …«
    Es war fraglich, ob Evelin sie überhaupt gehört hatte.
    »Ich töte ihn. Es geht so einfach. Sie sind alle so leicht zu töten. Es kostet mich nichts, keinerlei Anstrengung. Sie wehren sich nicht. Sie sterben einfach. Und ich begreife nicht, weshalb ich so lange damit gewartet habe. So viele Jahre. So viele Jahre leiden unter ihnen. Dabei ist es so einfach, sie zu töten.« Sie schüttelte den Kopf, tief verwundert. »So einfach«, wiederholte sie.
    »Warum Diane?« fragte Jessica tonlos. »Warum Sophie? Warum zwei kleine Kinder?«
    Evelin bekam wieder den angestrengten Gesichtsausdruck.
»Sie haben über mich gelacht. Immer wieder. Sie haben geflüstert, wenn ich in ihre Nähe kam. Ich habe gesehen, wie sie mich verachteten. Ich war der letzte Dreck in ihren Augen. Es ist in Ordnung, daß sie bezahlt haben. Daß sie tot sind.«
    Sie starrte Jessica an.
    Gleich, dachte Jessica, fällt ihr auf, daß ich auch zu ihnen gehört habe.
    »Evelin, hör zu«, sagte sie, »dir muß doch klar sein, daß du Phillip völlig falsch verstanden hast an jenem Tag. Er hat nie im Leben gemeint, du sollst hingehen und deinen Mann und seine Freunde töten. Er hat gemeint, geh hin zu Tim, schrei ihn an, verbitte dir diesen Ton, nimm dir einen Anwalt, reiche die Scheidung ein, zeige ihn an wegen Körperverletzung, fordere Schmerzensgeld und Unterhalt in astronomischen Höhen. Geh hin zu deinen und seinen Freunden, die du nicht mehr Freunde nennen mußt, wenn du nicht willst, und klage sie an, erzähle ihnen, was passiert ist, und mache ihnen klar, wie jämmerlich sie versagt haben. Aber verbaue dir doch nicht dein eigenes Leben, indem du wehrlose Menschen abschlachtest, die sich dir gegenüber falsch verhalten haben, die du aber auch nie konfrontiert hast mit der Hölle, in der du gelebt hast. Sie sind gestorben, ohne daß sie sich verantworten mußten für ihre Feigheit, ihr Wegschauen, ihr Schweigen. Gibt dir das wirklich ein gutes Gefühl?«
    »Die haben sich verantwortet«, entgegnete Evelin mit Schärfe in der Stimme, »die haben für mein verpfuschtes Leben mit ihrem Leben bezahlt. Das ist Gerechtigkeit.«
    »Dein Leben ist doch nicht verpfuscht. Du bist jung. Es gibt tausend Männer auf der Welt, die dich glücklich machen können. Warum hast du nicht Tim einfach einen Fußtritt gegeben und bist gegangen?«
    »Es hätte nicht ausgereicht«, sagte Evelin, und nach einer Sekunde des Schweigens setzte sie aggressiv hinzu: »Und hör auf, mir zu sagen, was ich hätte tun sollen! Du bist kein bißchen besser als sie. Du hast mich verhöhnt und verspottet. Du hast dich
geweigert, mir zu helfen. Du hast mich genauso im Stich gelassen wie all die anderen. Du spielst dich auf als Freundin und Beraterin, aber in Wahrheit war ich dir immer scheißegal.«
    »Ich bin sofort hierhergekommen, als du mich angerufen hast. Ich stehe jetzt hier mit dir und lasse mich anklagen, während zu Hause möglicherweise Patienten vor meiner Praxis, deren Wiedereröffnung ich überall angekündigt habe, stehen und wahrscheinlich so wütend sind, daß ich sie nie wiedersehe. Würde ich das tun für eine Frau, die mir scheißegal ist?«
    Aber Evelin ging auf diese Erklärung mit keinem Wort ein, und Jessica begriff, daß es kaum einen Sinn machte, mit ihr zu reden.
    »Du denkst doch nur an dein Baby, an dein dreckiges Baby«, sagte Evelin voller Haß. »Und du denkst, du bist der bessere Mensch, nur weil in deinem Bauch irgendein blöder Balg wächst, während mein Bauch tot ist für immer!«
    »Das ist Unsinn«, erwiderte Jessica, und in diesem Moment trat wieder der Ausdruck tiefsten Wahnsinns in Evelins Augen, und sie machte zwei schnelle Schritte auf Jessica zu, das Messer fest in der Hand.
    »Du bist die nächste«, stieß sie leise hervor, »du und dein verdammter Balg, ihr seid die nächsten!«
    Geistesgegenwärtig machte Jessica einen Sprung zur Seite und ließ Evelin ins Leere laufen. Sie stand jetzt neben der Bank und hatte die Wahl, in welche Richtung sie laufen wollte. Im Bruchteil einer Sekunde entschied sie, weder in Richtung Dorf zu fliehen noch in den Wald; gegenüber der vor Haß wahnsinnigen Evelin hätte sie in beiden Fällen keine Chance gehabt. Statt dessen rannte

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