Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
sehen sollte. Du hast doch mitgespielt, Evelin! Tim konnte das alles nur tun, weil er in dir seine beste Verbündete hatte. Du hast es ihm so leichtgemacht. Und seinen Freunden so schwer. Du hast nicht geschrien. Du hast dich nicht gewehrt!«
Evelins Blick blieb ohne Ausdruck, ihre Stimme hatte die alte Monotonie wieder angenommen.
»Doch«, sagte sie, »ich habe mich gewehrt. Gegen euch alle. Am Ende habe ich mich gewehrt.«
Sie hob langsam die rechte Hand. Zu ihrem Entsetzen erkannte Jessica eines der Anglermesser, die in der Küche über dem Spültisch hingen. Schmal, gebogen, scharf wie eine Rasierklinge. Der Zwilling jenes Messers, mit dem fünf Wochen zuvor sämtliche Hausbewohner abgeschlachtet worden waren. Von einer Frau, die durch jahrelange Demütigungen den Verstand verloren hatte - und die Kontrolle über sich selbst. Von einer Frau, in deren Zügen Jessica nichts mehr von der Evelin wiederfand, die sie gekannt hatte.
Halte sie am Reden, sagte ihr eine innere Stimme, hole sie aus der Leere zurück. Das ist deine einzige Chance.
»Was war passiert, Evelin?« fragte sie. »An jenem Tag, was war da passiert?«
Evelin lachte. Es klang hohl und unecht. »Was war denn am Vorabend passiert?« fragte sie zurück. »Das solltest du besser fragen. Hast du da nicht freudestrahlend und triumphierend verkündet, daß du ein Baby erwartest?«
»Nein«, korrigierte Jessica, »ich habe gar nichts verkündet. Das war Alexander. Und er war weder freudestrahlend noch triumphierend. Es war eine peinliche und furchtbare Situation, nachdem Patricia ihren unsäglichen Auftritt mit Ricardas Tagebuch gehabt hatte, und Alexander versuchte etwas zu retten, indem er mit der Nachricht von dem Baby herausplatzte.«
Evelin schien ihr nicht zugehört zu haben.
»Ich ging ins Bett, verzweifelt, in Tränen aufgelöst. In meiner nächsten Nähe eine Frau, die ein Baby erwartete. Ich würde mich nicht entziehen können, ich würde ihre Schwangerschaft miterleben und ihr tiefes Glück, wenn das Baby erst da wäre. Ich, die ich seit Jahren die Straßenseite wechsle, wenn mir eine Frau mit Kinderwagen entgegenkommt. Die ich in Hauseingänge flüchte, wenn ich eine Schwangere sehe, weil ich meinen Schmerz nicht ertragen kann. Weißt du, wie es sich anfühlt, ein Baby zu verlieren?
Es ist, als ob ein Teil deines Herzens abgeschnitten wird, und wenn du kein anderes Kind bekommst, erhältst du diesen Teil deines Herzens nie zurück. Es bleibt eine große, blutende Wunde. Es bleibt eine andauernde furchtbare Traurigkeit, von der du genau spürst, daß sie dich nie verlassen wird, auch nach Jahrzehnten nicht. Und du siehst sie plötzlich überall, diese fetten, stolzgeschwellten Weiber, die ihre schwangeren Bäuche durch die Straßen schieben, die dich verhöhnen mit ihrer ganzen demonstrativen Gebärfähigkeit. Weil sie das erfüllen, wozu sie als Frauen auf der Welt sind. Sie gebären. Sie werden ihrer Aufgabe gerecht. Die Erhaltung der Art. Ihr Job. Ihr blöder, beschissener Job. Aber wenigstens erledigen sie ihn zur Zufriedenheit.«
»Evelin«, sagte Jessica beschwörend, »das ist doch nicht das einzige, wozu du als Frau auf der Welt bist! Um Gottes willen, reduziere doch dich und andere Frauen nicht darauf . In welche dunkle Zeit tauchst du da zurück? In eine Zeit, in der Mütter ihren Töchtern beibrachten, ihr einziger Lebenssinn sei es, ihren künftigen Gatten sexuell zufriedenzustellen und ihm einen Erben zu gebären? Du wirfst ja alles weg, was Frauen seither für sich völlig zu recht erkämpft haben!«
Wieder kehrte für einen Moment das Leben in Evelins Augen zurück.
»Wozu ist eine wie ich denn gut?« fragte sie heftig und voller Verbitterung. »Wozu denn?«
Es erschien Jessica schwierig, einer Massenmörderin darauf Antwort zu geben, und doch war sie überzeugt, daß es richtig war, was sie sagte.
»Du bist Evelin. Und zunächst einfach wertvoll, weil du du bist. Und darüber hinaus stecken tausend Möglichkeiten in dir, mit denen du dein Leben für dich und andere zutiefst sinnvoll gestalten kannst. Nur daß du seit sechs Jahren diese Möglichkeiten überhaupt nicht mehr sehen kannst, weil du nur um den Gedanken an ein Baby kreist. Zu dir kann ja sonst nichts durchdringen. Aber das heißt nicht, daß es nicht da ist.«
Evelin verzog das Gesicht. »Dummes Gerede«, sagte sie, »die gleiche Leier, die ich von meinem Therapeuten kenne. Glücklicher Vater übrigens von drei Kindern. So wie du demnächst eine
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