Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
glückliche Mutter sein wirst. Wie leicht ist es für euch, den armen Schweinen in eurer Mitte zu erklären, daß sie ihr Schicksal positiv annehmen müssen. Wieso seid ihr so sicher, daß ihr es umgekehrt so einfach könntet?«
»Wir sind ja gar nicht sicher«, sagte Jessica, und dann sah sie, wie sich wieder die Schleier über Evelins Augen senkten und wie die einstige Freundin ihr erneut entglitt.
Verdammt, dachte sie.
»Schließlich kam Tim in unser Zimmer«, fuhr Evelin in ihrer Schilderung jener Stunden im April fort. »Ich war wach, versuchte ein Buch zu lesen, um mich ein wenig abzulenken. Tim setzte sich an den Schreibtisch, arbeitete an seiner Promotion, wie er es ja immer nannte. Dann kam Leon, Tim verschwand, ich las in den Papieren. Ich habe es dir ja erzählt. Dann erschien Tim wieder, er hatte einen Ausdruck im Gesicht, den ich nur zu gut kannte. Er war wieder einmal in einer sadistischen Stimmung. Er würde nicht eher ruhen, bis er mich fertiggemacht hatte, das wußte ich. Er ging auf und ab, zog sich aus, schleuderte die Sachen in die Ecken, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, spritzte mit Wasser herum, knallte den Zahnputzbecher auf die Ablage. Er benahm sich aggressiv und unbeherrscht, und ich wußte, daß mich Schlimmes erwartete. Schließlich kam er wieder ins Schlafzimmer zurück, warf sich in einen Sessel, sah mich kalt an und meinte: ›Alexander hat es gut. Er wird wieder Vater. Irgendwie hat er einen guten Griff bei seinen Frauen. Soll ich dir etwas sagen? Es ist eine zunehmend unerträglichere Vorstellung für mich, daß ich nie Kinder haben werde, nur weil du nicht in der Lage bist, sie zur Welt zu bringen.‹
Ich war völlig entsetzt, denn so weit war er noch nie gegangen. Er hatte mir immer wieder gesagt, wie unzulänglich ich bin, wie wertlos, wieviel häßlicher und unweiblicher als andere
Frauen, aber das Thema Baby war ein Tabu gewesen, es kam zwischen uns nie zur Sprache, und er hatte es auch noch nie gegen mich verwendet.
Ich dachte, ich könnte nicht mehr atmen, mir war die Luft wie abgeschnürt, ich konnte nichts sagen, nichts erwidern, es war, als müßte ich auf der Stelle sterben. Tim schleuderte seine Sandalen von den Füßen und sagte, ohne mich anzusehen: ›Vielleicht nehme ich mir dafür eine andere. Irgendeine Frau, die es schafft, mir ein Kind zu schenken. Gibt ja genug, die damit klarkommen. Es könnte bei uns aufwachsen.‹ Er sagte das in dem gleichen Ton, in dem ein anderer Mensch ankündigen würde, er gehe jetzt etwas einkaufen oder werde den Garten gießen. Ganz normal, ganz gleichmütig. Als sei ihm nicht klar, was seine Worte in mir auslösen mußten.«
»Aber natürlich war ihm das klar«, warf Jessica ein, »denn das war ja der einzige Zweck der Übung. Dich fertigzumachen. Ihm ging es doch nicht um ein Kind, und ich bezweifle stark, daß ein solcher Narziß wie er, eine solch kranke Persönlichkeit jemals ein Kind ertragen hätte. Evelin, das konntest du doch nicht ernst nehmen. Wäre es nicht ein Baby gewesen, hätte er etwas anderes ausgesucht. Ihm wäre immer etwas eingefallen. Er schreibt es ja in seinen unsäglichen Aufzeichnungen. Nur um dich zu quälen, hat er dich schließlich geheiratet.«
»Ich schlief die ganze Nacht nicht«, fuhr Evelin fort, »ich hatte Herzrasen, und einmal mußte ich ins Bad und mich übergeben. Tim lag neben mir und schnarchte friedlich. Am nächsten Morgen war ich wie … wie im Fieber, fröstelnd vor Kälte und dabei innerlich glühend. Und entschlossen, diese Aufzeichnungen an mich zu bringen, die euch die Augen öffnen würden. Ich versteckte sie in der Sickergrube und hoffte, daß Tim nicht ausrasten würde. Aber natürlich wurde er mit jeder Minute des Vormittags wütender, und bald war mir klar, daß ich bitter bezahlen würde, selbst wenn er wohl in seinen finstersten Träumen nicht vermutet hätte, daß ich die Papiere an mich gebracht hatte. Ich
zog mich ein Stück weit in das Wäldchen zurück. Ich hatte das Haus im Auge, so daß ich sehen konnte, wenn er sich mir näherte, aber er konnte mich nicht sehen, und das würde mir die Möglichkeit geben, wegzulaufen.«
Jessica schwieg. Sie beobachtete Evelin genau, bereit, sofort einzuhaken, wenn sich die geringste Regung auf ihrem Gesicht zeigen würde.
»Und dann kam Phillip Bowen«, sagte Evelin. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, aber es war ein irres, grausiges Lächeln. »Und er hat mir den Weg gewiesen.«
»Er hat dir den Weg gewiesen?« fragte
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