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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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»Heute stehe ich dauernd plötzlich vor Menschen, die ich zuvor nicht bemerke. Wahrscheinlich laufe ich ganz schön in Gedanken versunken durch die Gegend.«
    »Wen würde das wundern? Sie müssen eine ganze Menge verarbeiten. «
    »Die Zeit wird es bringen«, sagte Jessica, hoffend, er werde jetzt nicht wie Leon vom Einbruch des Bösen in ihr Leben und vom ewigen Gezeichnetsein sprechen. Sie brauchte Zuspruch. Sie brauchte Menschen, die ihr sagten, daß sie nach vorn sehen und nicht zurückblicken sollte.
    Phillip begriff wohl, daß sie wenigstens für den Moment das Thema nicht vertiefen wollte, und sagte: »Ich hatte gehofft, mit Ihnen frühstücken zu können. Aber da waren Sie wohl schon weg.«
    »Ich bin ein gnadenloser Frühaufsteher. Ich werde in der allerersten Dämmerung wach, und dann laufe ich durch die Gegend. Und wenn ich nicht gerade arbeite, laufe ich eigentlich den ganzen Tag. Ganz schön verrückt, oder? Seitdem ich, von den Ereignissen in meinem Leben veranlaßt, verstärkt über verschiedene Formen des Wahnsinns nachdenke, frage ich mich, ob ein Mensch, der so zwanghaft läuft wie ich, auch irgendwie krank ist.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Was heißt schon krank? Es ist Ihre Art, mit dem Leben klarzukommen. Wir haben jeder unseren Mechanismus. Aber mit Ihrem tun Sie wenigstens niemandem weh.«
    Sie nickte. »So gesehen haben Sie recht.« Sie wollte ihm etwas sagen, aber sie wußte nicht recht, wie sie es formulieren sollte,
und so schwieg sie einen Moment lang unschlüssig. Auch Phillip sprach nicht, er stand einfach vor ihr, schob beide Hände in die Taschen seiner Jeans. Er hatte ein weißes, völlig zerknittertes T-Shirt an. Sie rief sich ins Gedächtnis, daß er noch immer nur die Kleidungsstücke bei sich hatte, die er seit seiner Flucht in einer Tasche mit sich herumschleppte.
    »Phillip, ich glaube, ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt«, sagte sie schließlich. »Sie haben mir das Leben gerettet gestern. Wären Sie nicht erschienen, hätte mich Evelin in ihrem Wahn getötet. Ich würde jetzt nicht hier auf dieser Dorfstraße mitten in der Sonne stehen. Und darüber hinaus«, sie strich sich mit einer verlegenen Geste über den Bauch, »haben Sie auch mein Kind gerettet. Zwei Menschenleben an einem einzigen Tag.«
    »Oh, ich weiß nicht«, erwiderte er betont lässig, »so, wie Sie den Hockeyschläger schwangen, bin ich keineswegs sicher, ob Sie meine Hilfe überhaupt gebraucht haben. Sie kamen ganz schön kampfbereit die Kellertreppe herauf. Sie hätten Evelin mit aller Kraft dieses Ding auf den Kopf gehauen, daher ist vermutlich sie es, die mir ihr Leben verdankt!«
    Sie ging nicht auf seinen Ton ein. »Ich danke Ihnen, Phillip«, sagte sie leise, »ich werde Ihnen das nie vergessen.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Ich werde Sie nie vergessen.«
    Sie sahen einander an, und ohne daß sie sich darüber hätten austauschen müssen, wußten sie beide voneinander, daß sie fühlten und sahen, was zwischen ihnen hätte sein können, was seit ihrer ersten Begegnung an einem warmen Apriltag am Ufer eines kleinen Flusses zwischen ihnen gewesen war. Eine Palette unendlicher Möglichkeiten, Gedanken, Gefühle, Träume. Unter anderen Umständen … Aber wie die Dinge lagen, waren ihrer beider Leben zu verschieden, liefen in allzu weit voneinander entfernt liegende Richtungen. Der Schnittpunkt, an dem sich ihrer beider Schicksalslinien gekreuzt hatten, war zu klein, die Ereignisse rundherum hatten ihn nicht größer werden lassen. Was ihnen bleiben würde, war die Erinnerung aneinander und vielleicht der
eine oder andere Gedanke an Verheißungen, die sie gestreift, aber sich nicht hatten greifen lassen.
    Jessica riß sich als erste aus ihren Empfindungen. Wie üblich ging sie weiter, verhinderte, daß etwas Gewalt über sie bekam, was am Ende doch zu nichts führen konnte.
    »Sie sagten gestern, Sie waren bei Stanbury House, um Abschied zu nehmen«, sagte sie dann, »von dem Haus und von Ihrem Vater. Heißt das, Sie werden nicht länger versuchen, Ihren Anspruch auf die Hälfte des Anwesens geltend zu machen?«
    »Es heißt, daß ich die ganze Geschichte hinter mir lasse«, sagte Phillip. »Es heißt, daß ich mich damit abfinde, nicht zu wissen, wer mein Vater war. Ich habe einundvierzig Jahre ohne Vater gelebt. Ich werde es auch weitere einundvierzig Jahre aushalten.«
    Sie sah ihn an, fast ein wenig beunruhigt. »Weshalb so plötzlich? Sie waren so … so …«
    »… so

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