Am Ende des Winters
gab es auch gewöhnliche, menschliche Aspekte an Torlyri. Sie war nicht einfach nur Ritenvollzieherin und Trostspenderin, sondern außerdem auch eine Person mit privater Existenz, mit persönlichen Ängsten, Zweifeln, Bedürfnissen und Schmerzen. Und darüber nachzudenken hatte Hresh sich bisher nicht die Mühe gemacht. Beim Tvinnr mit ihr, gerade jetzt vor wenigen Minuten jedoch, hatte er ihr heftiges Verlangen nach einem Stammeskrieger entdeckt – nach Lakkamai, vermutlich; Torlyri und Lakkamai steckten in letzter Zeit beständig beisammen –, und er hatte herausgefunden, wie vielschichtig und kompliziert ihre Beziehung zu Koshmar war, und noch etwas… eine Leere in ihr, eine Ödnis, die damit zusammenhing, daß sie kein Kind geboren hatte. Sie war die Mutter für den ganzen Stamm und dennoch niemandes leibliche wirkliche Mutter, und dies schien sie zu bedrücken, wahrscheinlich auf derart verdeckte Weise, daß sie sich dessen selbst nicht bewußt war. Hresh aber erkannte dies jetzt, und dieses Wissen hatte ihn verändert. Er begann zu begreifen, wie schwierig und verwickelt das Erwachsensein ist. Es gab dermaßen viele Lebensaspekte, die einfach nicht leicht und glatt einzuordnen waren, sondern die umherzuckten und unterschwellige Störungen bewirkten, wenn man einmal erwachsen war. Dies war – vielleicht – die wichtigste Lehre, die er aus seinem Erst-Tvinnr mitnahm.
Also – Lust und Erleuchtung. Aber war es nicht auch irgendwie ein wenig enttäuschend gewesen? Doch, das ebenfalls. Es war nicht die erschütternde, Furcht und Ehrfurcht einflößende Erfahrung gewesen, auf die er gehofft hatte. Das Erlebnis war hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben, jedoch nur, weil er im Besitz des Wundersteins war. Beim Tvinnr erreichte man nur die Seele einer einzelnen anderen Person; mit der Hilfe des Barak Dayir hingegen kam man in Berührung mit der Seele der Welt. Schon bei seinen frühen unbeholfenen Versuchen mit dem Wunderstein war er hoch über die Wolken hinausgestiegen, er hatte über Meere hinweggeschaut, er hatte in die Zeiten vor der Ankunft der Todessterne hinabgespäht. Was bedeutete im Vergleich damit schon das Tvinnr?
Er machte sich klar, daß er ungerecht dachte. Der Barak Dayir eröffnete ihm nahezu unbegreifliche Weiten. Aber Tvinnr – das war eine ganz intime, persönliche Kleinwelt. Jedoch das eine bedeutete nicht die Negation des anderen. Und wenn er beim Tvinnr eine leise Enttäuschung verspürt hatte, so nur deshalb, weil der Wunderstein ihn bereits gelehrt hatte, wie er die Grenzen seines eigenen Denkens und Bewußtseins überschreiten konnte. Ohne diese Vorerlebnisse wäre ihm das Tvinnrerlebnis vermutlich als eine überwältigende Erfahrung erschienen. Aber der Wunderstein hatte ihn offenbar dafür untauglich gemacht, ihm sozusagen den Gaumen verdorben. Dennoch bestand kaum Anlaß, das Tvinnr auf die leichte Schulter zu nehmen. Es war etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Erstaunliches.
Er nahm sich vor, so bald wie möglich ein weiteres Tvinnr zu veranstalten. Und zwar mit Taniane.
Dieser Gedanke sprang ihm mit derartiger Heftigkeit ins Gehirn und kam so urplötzlich, daß ihm davon die Luft wegblieb, wie wenn jemand ihm einen fürchterlichen Hieb zwischen die Schulterblätter versetzt hätte. Seine Kehle wurde strohtrocken, der Atem ging ihm stockend. Sein Herz begann zu hämmern und dumpf zu dröhnen wie eine Trommel, und so laut, daß es die anderen unbedingt hören müßten, glaubte er. Tvinnr mit Taniane! Was für eine erstaunliche Idee!
Für ihn war das Mädchen ein Rätsel. Schon seit langem hatte er eine Art mysteriöser Verbindung und Hingezogenheit zu ihr verspürt. Aber furchtsam hatte er sich dagegen gewehrt, weil es eine Ablenkung von seinen wesentlichen Aufgaben bedeutet hätte; und überdies hatte er auch befürchtet, er könnte dadurch zu etwas Üblem verführt werden.
Sie war inzwischen Frau, und eine schöne Frau, und außerdem verfügte sie auch noch über eine ungewöhnlich hohe Intelligenz. Und ehrgeizig war sie auch. Sie träumte davon, eines Tages Koshmars Rang als Stammeshäuptling einzunehmen, daran gab es wohl kaum Zweifel. Jeder mit nur einem Quentchen Grips mußte das erkennen, wenn er sah, mit welch neiderfülltem Blick sie Koshmar betrachtete. Und manchmal ertappte Hresh sie auch dabei, wie sie ihn aus der Ferne beobachtete, wie sie dabei so seltsam starrte, wie die Frauen es tun, wenn ein Mann sie interessiert. Und manchmal schaute auch er selber sie
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