Am Ende des Winters
Haniman eines Tages vor.
Hresh war wie vom Donner gerührt. »Aber ich weiß ja nicht einmal, ob sie sowas wie Tvinnr überhaupt kennen!«
»Sie haben doch ihre Sensororgane, oder?«
»Ja, das schon, aber nimm mal an, sie benutzen sie ausschließlich für das Zweite Gesicht? Und stell dir mal vor, was wäre, wenn Tvinnr bei ihnen als eine Abscheulichkeit gilt?«
Das Thema Tvinnr war für Hresh sowieso eine leidige und schmerzliche Angelegenheit. Die Erinnerung an seinen katastrophalen Fehlschlag, als er mit Taniane hatte tvinnern wollen, brannte ihn noch immer im Herzen. Seit jenem Tag hatte er es nicht über sich gebracht, mehr als nur ein paar flüchtige Worte zu ihr zu sagen oder ihr direkt in die Augen zu schauen – oder auch nur daran zu denken, mit jemandem anderen zu tvinnern. Außerdem konnte er sich auch kaum vorstellen, woher er die Kühnheit nehmen sollte, dem alten Noum om Beng anzubieten, mit ihm zu tvinnern. Das war doch eine viel zu intime und viel zu private Sache! Vor drei oder vier Jahren hätte er möglicherweise versuchen können, etwas derart Verrücktes vorzuschlagen; doch nun, seit er etwas älter war, verlangte es ihn weit weniger nach der Befriedigung eines zügellosen Appetits.
»Du solltest das aber doch mal versuchen«, drängte Haniman. »Wer weiß? Vielleicht findest du dabei den Zugang zu ihrer Sprache, den du suchst.«
Die Aussicht, sich in der Umarmung des hageren, ausgedorrten Noum om Beng auf ein Lager zu betten, seinen schalen Atem auf den Wangen zu fühlen und mit ihm Sensororgankontakt zu haben, erfüllte Hresh keineswegs mit Freude. Jedoch, wenn er dies tun mußte, um den Schlüssel zu den Geheimnissen der Bengsprache zu finden…
Aber Hresh konnte sich nicht überwinden, seine ausgefallene Bitte direkt vorzutragen. Es war ihm zu peinlich, zu dreist. Statt dessen tapste er in seinem kargen Wortschatz umher und versuchte zu erklären, wie sehr er sich wünschte, daß er einen rascheren und direkteren Weg fände, die Beng-Sprache zu erlernen und zu sprechen. Dabei blickte er auf Noum om Bengs Sensororgan und dann auf sein eigenes. Leider schien der alte Behelmte jedoch den überdeutlichen Fingerzeig nicht zu verstehen.
Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit. Zweites Gesicht? Ab und zu hatte Hresh kleine behutsame Sondierungen in das Bewußtsein einiger Behelmter versucht, ohne dabei allerdings jemals sehr tief einzudringen. Doch bei Noum om Beng hatte er dies niemals gewagt. Er erinnerte sich nur allzu gut daran, wie sich damals jener erste Kundschafter der Beng selbst getötet hatte, als Hresh es bei ihm mit dem Zweiten Gesicht versucht hatte. Noum om Beng war zu klug und erfahren, als daß Hresh hätte glauben dürfen, er werde es nicht merken, wenn er ihn sondierte, und außerdem wußte er nicht, wie der alte Mann auf das Eindringen in seinen Geist reagieren würde.
Es blieb also nur der Barak Dayir. Sein Talisman, sein Zauberschlüssel für alles. Höchstwahrscheinlich bot er die einzige wirkliche Hoffnung, daß Hresh jemals die Sprache der Beng einigermaßen klar würde verstehen lernen.
Als er das nächste Mal Noum om Beng besuchen ging, kam der Wunderstein, säuberlich in den alten abgetragenen Samtbeutel verstaut, mit ihm.
Er saß eine Stunde oder mehr Noum om Beng zu Füßen und lauschte dem unverständlichen Monolog des Alten. Die wenigen Wörter, die er verstand, schwebten aufreizend an ihm vorbei wie helle Blasen in einer dunklen Gaswolke, und wie gewohnt begriff er gar nichts von dem, was Noum om Beng sagte. Schließlich hielt der ausgemergelte alte Mann inne und schaute Hresh an, als erwarte er, daß dieser nun seinerseits eine ebenso lange Rede vom Stapel lasse.
Statt dessen holte Hresh den Barak Dayir hervor und ließ ihn aus dem Beutel in die Handfläche fallen. Goldenes Licht und eine schwache Wärme strahlten von ihm aus. Er murmelte die Namen der Fünf Erhabenen und schlug ihre Zeichen mit der anderen Hand, und dann hielt er das spitz zulaufende polierte Steinstück so, daß Noum om Beng es sehen konnte.
Die Reaktion des Alten war unmittelbar und dramatisch, als hätte er dreißig oder vierzig Jahre von seinem Alter in einem Augenblick von sich abgestreift. Die roten Augen glühten in plötzlichem Scharlachfeuer und leibhaftiger Lohe. Er stieß einen rauhen keuchenden Laut aus und erhob sich von seinem Sitz – und sank vor Hreshs ausgestreckter Hand so rasch in die Knie, daß die langen Purpurschwingen seines Helmes Hresh beinahe ins Gesicht
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