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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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hatte. Orbin, Taniane, Haniman – sie vermochten einfach nicht zu verstehen, was ihn dazu drängen konnte, hinauszugehen, noch, warum Koshmar ihm die Strafe dafür erlassen hatte. Sie hatten vermutet, daß er sich selbst töten hatte wollen. »Kannst du denn nicht warten, bis dein Todestag gekommen ist?« hatte Haniman gefragt. »Es sind doch sowieso nur noch zwanzig Jahre und sieben.« Und er hatte gelacht, und Taniane hatte mit ihm gelacht, und sogar Orbin, der bisher immer sein guter Freund gewesen war, hatte gemein gegrinst und ihn in den Arm geknufft. »Hresh-Fragesack« hatten sie ihn beschimpft, »Hresh-möcht-gern-erfrieren« hatten sie gespottet.
    Das war weiter nicht wichtig. Nach ein paar Tagen hatten sie seine kleine Eskapade vergessen. Und nun war sowieso alles anders. Denn der Stamm zog ja wirklich hinaus. Innerhalb von einigen wenigen Wochen erblickte Hresh erneut den Draußenhimmel, und diesmal war es nicht für einen kurzen flüchtigen Augenblick. Und er würde die Berge sehen… und die Ozeane. Vengiboneeza würde er mit seinen Augen schauen und Mikkomord. Die ganze Welt würde ihm gehören.
    Die Wonnezeit der Wärme
    Unsre Zeit ist jetzt.
    »Ist das – der Himmel?« fragte Orbin.
    »Ja, das ist der Himmel«, bestätigte Hresh mit der stolzen Sicherheit dessen, der (wenn auch nur einige wenige Minuten) vorher bereits ‚hier draußen’ war. Orbin, untersetzt und sehr stark, mit strahlenden Augen und einem immer bereiten strahlenden Lächeln, war ganz genau so alt wie Hresh und sein engster Freund im Kokon. Aber Orbin hätte sich nie getraut, mit ihm zusammen nach ‚draußen’ zu schleichen. »Und das dort unten, das ist der Fluß. Dieses grüne Zeug dort – ist Gras. Und das rote Zeug – ist auch Gras, aber von einer anderen Sorte.«
    »Die Luft schmeckt merkwürdig«, sagte Taniane und krauste die Nase. »Brennt mir irgendwie im Hals.«
    »Das kommt daher, daß es hier kalt ist«, erklärte Hresh dem Mädchen. »Nach einer Weile macht es dir nichts mehr aus.«
    »Aber wieso ist es kalt, wo doch der Winter vorbei ist?« klagte sie.
    »Frag mich nicht so blöde Sachen!« grollte Hresh.
    Dennoch beunruhigte ihn eben dieses Problem gleichfalls, trotz allem.
    Weiter vorn, am Opferstein, vollzog Torlyri geschäftig irgendein Ritual. Das endlich letzte, hoffte Hresh, ehe der Auszug dann endlich wirklich begann. Ihm kam es so vor, als hätten sie während der ganzen letzten Woche nichts weiter getan, als Rituale erfüllt und feierliche Zeremonien abgehalten, seit der Träumeträumer erwacht war und Koshmar verkündet hatte, daß der Stamm aus dem Kokon ausziehen werde.
    »Werden wir über den Fluß hinübergehen müssen?« fragte Taniane.
    »Das glaub ich eigentlich nicht«, sagte Hresh. »Dort steht die Sonne, und wenn wir in diese Richtung ziehen, könnten wir Verbrennungen bekommen. Ich glaube, wir werden in die andere Richtung ziehen.«
    Er hatte zwar einfach geraten, doch es stellte sich heraus, daß er sich zumindest in der Marschrichtung nicht geirrt hatte. Koshmar – sie trug nun die Liridonmaske, die so lange an der Wand der Wohnkammer gehangen hatte, gelb und schwarz und mit einem gewaltigen Schnabel, was ihr das Aussehen eines riesenhaften Insekts verlieh – erhob den Speer und rief laut die Fünf Namen. Dann beschritt sie einen schmalen Pfad, der vom Sims zum Hügelkamm hinaufführte, von dort zur anderen Bergflanke und über den Westhang hinab in das weite kahle Tal drunten. Nacheinander reihten sich die anderen hinter ihr und stiegen langsam unter ihren schweren Packlasten hinter ihr drein.
    Sie waren draußen. Sie waren auf ihrem Weg.
    In ungebrochener Formation marschierten sie über den weiten Hang ins Tal hinab, in der selben Reihenfolge wie beim Verlassen des Kokons: Koshmar und Torlyri bildeten die Spitze, dann folgte Thaggoran, dann die Krieger, dann die Arbeiter, dann die Zuchtammen, und Hresh mit den anderen Kindern bildete die Nachhut. Das Tal lag viel weiter entfernt, als es den Anschein gehabt hatte, ja zuweilen schien es sich sogar vor ihnen zurückzuziehen, während sie darauf zumarschierten. Koshmar hatte ein bedächtiges Tempo angeschlagen. Auch die kräftigsten Marschierer, die vorn im Glied, schienen rasch zu ermüden; und für einige der übrigen, besonders die Ammenfrauen, und für den feisten Haniman und die kleineren Kinder war der Auszug von Anfang an mühsam gewesen. Ab und zu vernahm Hresh weiter vorn ein Weinen, doch hätte er nicht zu sagen gewußt, ob

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