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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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danach kamen Konya, Harruel, Staip, Lakkamai und die übrigen älteren Männer. Hresh, der als der Drittletzte im Zug kam, warf den Schädel in den Nacken und grölte die Worte lauter als irgendwer sonst:
    Weit in die Welt nun
    Kampfstolz und kühn
    Herrlich nun sind wir
    Herrschen werden wir hier.
    Taniane warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu, als verletze sein rauhes Gebrüll ihre zarten Ohren. Und auch Haniman, der dickliche, watschelnde Fettsack, der sich wie üblich dicht an Taniane anschmiß, schnitt ihm eine Grimasse. Hresh streckte ihnen die Zunge heraus. Was kümmerte ihn schon, was Taniane von ihm hielt, oder der glasigglotzäugige Haniman? Endlich war der große Tag gekommen. Der Auszug aus dem Kokon war endlich da; und nichts sonst war noch wichtig. Nichts.
    Uns liebt der Lenz
    Das junge lohende Licht
    Yissou nun schenkt uns
    Reiche und Reichtum.
    Aber dann trat Hresh selbst durch die Schleuse, und die Draußenwelt prallte ihm entgegen und traf ihn wie eine mächtige Faust. Gegen seinen Willen war er überwältigt, war verwirrt, betäubt.
    Damals bei jenem erstenmal, als er sich hinausgeschlichen hatte, da war das alles viel zu rasch gegangen, war alles viel zu sehr durcheinander gewesen, ein Schwall von Bildeindrücken, wirbelnde Gefühle, und dann hatte ihn auch bereits Torlyri gepackt, und sein kleines Abenteuer war vorbei, fast ehe es recht begonnen hatte. Doch das hier, das war der echte Aufbruch. Er hatte ein Gefühl, als ob der Kokon und alles, wofür er stand, hinter ihm abbröckelte und in einem tiefen Abgrund verschwände, tiefer und tiefer in den gewaltigen Brunnen der Rätsel und Geheimnisse versank.
    Er kämpfte, um seine Fassung wiederzugewinnen. Er biß sich fest auf die Lippen, ballte die Fäuste, atmete langsam und tief durch. Dann schaute er, was die anderen taten.
    Der Stamm verharrte dichtgedrängt vor der Luke auf dem Felsansatz. Manche weinten leise, manche gafften verblüfft, manche waren in tiefem Schweigen versunken. Keiner war unbewegt geblieben. Die Morgenluft war kühl und frisch, und die Sonne stand als riesiges schreckliches Auge jenseits des Flusses hoch in den Himmeln. Das Firmament drückte wie eine Decke auf sie herab. Es hatte eine schneidende harte Färbung, und dicke staubige Dunstnebel bildeten Spiralmuster darin, wenn sie vom Wind erfaßt wurden.
    Die Welt breitete sich vor ihnen weit und immer weiter aus, eine riesenhafte leere Ödnis, in alle Richtungen hin offen, soweit Hresh nur blicken konnte; es gab keine Wände, es gab überhaupt nichts, das beschränkte, eingrenzte. Und das war am allerbestürzendsten – diese Offenheit. Keine Wände, keine Mauern, nirgendwo! Immer hatte es Mauern gegeben, gegen die man sich drücken konnte, und ein Dach über dem Kopf, einen Boden unter den Füßen. Hresh stellte sich vor, daß er einfach nach vorn in die Luft springen könnte, über den Rand des Plateaus hinweg, und dann einfach weiterschweben würde auf immer und ewig, ohne je gegen etwas zu stoßen. Selbst die Decke, die der Himmel bildete, hing so hoch über ihnen, daß sie kaum ein Gefühl von Begrenzung erlaubte. Es war wirklich erschreckend, so in diese gigantische offene Weite zu starren.
    Aber wir werden uns daran gewöhnen, dachte Hresh. Wir werden uns daran gewöhnen müssen.
    Er wußte, wie sehr er vom Glück begünstigt war. Lebensperiode um Lebensperiode war vergangen. Tausende Generationen von den Lebendigen, und die ganze Zeit hindurch hatte das Volk gemütlich-schnuckelig wie Mäuschen in den Löchern dahingelebt und sich wundersame Märchen vorgesäuselt, wie wunder-, wunderschön die Welt außerhalb des Kokons sei, aus der die Todesgestirne die Vorfahren vertrieben hatten.
    Hresh wandte sich Orbin an seiner Seite zu. »Ich hab nie so richtig geglaubt, daß ich das jemals zu sehen kriegen würde. Und du? Hast du es geglaubt?«
    Orbin schüttelte den Kopf – mit einer kaum sichtbaren steifen Bewegung, als wäre sein Hals zu einem unbeugsamen Stengel erstarrt. »Nein, niemals.«
    »Ich kann es einfach noch nicht glauben, daß wir wirklich draußen sind«, flüsterte Taniane. »Yissou, ist das kalt hier! Sollen wir hier draußen erfrieren?«
    »Ach, es wird schon gutgehen«, sagte Hresh.
    Er spähte angestrengt in die graue Ferne. Wie stark hatte es ihn verlangt, auch nur einen einzigen kurzen Blick auf die Draußenwelt zu werfen! Und er hatte sich damit zufriedengegeben, sein Geschick auf sich zu nehmen, wohl wissend, daß ihm bestimmt war, im Kokon zu

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