Am Ende des Winters
Gedanken zu machen.
Hresh hoffte, daß Koshmar seine glatte Lüge nicht durchschauen möchte, und sagte stotternd: »Thaggoran hat mich die Chroniken sehen lassen. Er nahm mir das Versprechen ab, daß ich nie zu jemand darüber reden würde, aber ab und zu – als besondere Gunst – hat er mich…«
Koshmar lachte. »Das hat er getan? Wirklich? Fühlt sich keiner in diesem Stamm an seinen Schwur geschmiedet?«
Verzweifelt improvisierte Hresh weiter: »Er erzählte so gern die alten Geschichten. Und ich interessierte mich eben mehr als alle anderen dafür – und so hat er… und so haben wir – er und ich…«
»Ja. Ja, ich verstehe schon. Nun, es spielt jetzt keine große Rolle mehr, welche Eide gehalten und welche gebrochen worden sind, ehe wir in die Welt aufbrachen.« Koshmar blickte wie aus Turmeshöhe auf ihn herab. Lange schien sie in eine ganz persönliche Grübelei versunken zu sein. Schließlich sagte sie: »Also, Chronist soll es sein? Und noch keine neun Jahre alt? Eine außergewöhnliche Vorstellung!« Und dann, gerade als Hresh sich anschicken wollte, schmachbedeckt davonzuschleichen, sagte sie: »Aber ja. Geh und hol die Schriften! Und zeig mir, wie deine Schrift ist, danach werden wir entscheiden. Also, geh! Sofort!«
Mit hämmerndem Herzen stürzte Hresh davon. Meinte sie das im Ernst? Nahm sie ihn wahrhaftig und wirklich ernst? Würde sie ihm das Amt übertragen? Anscheinend bestanden Chancen. Natürlich konnte sie ja auch ein grausames Spiel mit ihm treiben, sich einen Spaß mit ihm erlauben; andererseits aber war Koshmar, obschon sie grausam sein konnte, nicht dafür bekannt, daß sie Scherze machte. Also meinte sie es ehrlich, entschied Hresh. Chronist! Er, Hresh sollte Chronist werden! Er vermochte es kaum zu glauben. Er würde der Alte Mann sein – und das mit nicht einmal neun Jahren!
An diesem Tag hatte Threyne die Heiligen Dinge in Obhut. Sie war eine kleine Frau mit weit auseinanderstehenden Augen und von dem Ungeborenen in ihrem Leib unförmig angeschwollen. Hresh stürzte auf sie zu und brüllte laut, daß Koshmar ihm befohlen habe, die Heiligen Bücher zu holen. Threyne begegnete dem mit Skepsis und wollte sie ihm nicht aushändigen; am Ende begaben sie sich beide vor das Stammesoberhaupt, wobei sie die schwere Schriftenlade zwischen sich mitschleppten.
»Doch«, erklärte Koshmar, »ich wollte, daß er mir die Bücher bringt.« Threyne stierte sie kuhäugig verblüfft an. So etwas war in ihrem Hirn eindeutig gotteslästerlich; aber gegen Koshmar würde sie keinen Widerspruch wagen, nicht einmal in solch einer Sache. Brummig überließ sie Hresh die Lade.
»Verschwinde!« sagte Koshmar zu Threyne und verscheuchte sie mit einer Handbewegung, als wäre sie ein Staubkorn. Als sie fort war, sagte die Anführerin zu Hresh: »Dann öffne das mal, da du ja anscheinend sowieso schon weißt, wie das geht.«
Eifrig setzte Hresh die Hände auf den Kasten, bewegte die Buckelknöpfe und ineinandergreifenden Siegel hierhin und dorthin. Trotz des nervösen Zitterns in seinen Fingern gelang es ihm fast sogleich die Verschlüsse zu entriegeln. Und da lag das Barak Dayir in seinem Beutel, daneben die Schimmersteine, und die Bände der Chronik, aufgestapelt, genau wie Thaggoran sie anzuordnen liebte: der Band des laufenden Jahres obenauf und das Buch des Weges direkt darunter.
»Also schön«, sagte Koshmar. »Nimm Thaggorans Buch heraus, schlag die letzte Seite auf und schreibe, was ich dir sagen werde.«
Er zog das Buch heraus und streichelte es ehrfürchtig. Als er es aufschlug, vollzog er das Schutzzeichen des Zerstörers: denn Dawinno war es, der Ausgleichende und Zerspellende, der zugleich auch der für die Wahrung des Wissens zuständige Gott war. Behutsam legte Hresh Seite um Seite um bis zur letzten beschrifteten, auf der Thaggoran links oben in seiner eleganten Handschrift die Geschichte des Auszugs niederzulegen begonnen hatte. Sein Bericht endete plötzlich, unvollständig, mitten auf der Seite; das rechte Blatt war leer.
»Bist du bereit?« fragte Koshmar.
»Du willst, daß ich in dieses Buch schreiben soll?« fragte Hresh, der seinen Ohren nicht traute.
»Ja. Also schreib!« Sie zog die Brauen zusammen und schob die Lippen vor. »Schreib dies: Es wurde aber sodann von Häuptling Koshmar beschlossen, daß der Stamm ausziehen und Vengiboneeza suchen solle, die Große Stadt der Saphiräugigen, denn es galt als möglich, daß man dort auf Geheimnisse stoßen könnte, die von Wert
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