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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Gehirn des Stamms gewesen und seine Seele – und die Augen überdies auch noch. Ohne ihn waren sie wie Blinde, die hierhin und dorthin schwanken und nichts von den tiefen Geheimnissen wissen, die sie auf allen Seiten umgeben.
    Sie verscheuchte die Vorstellung. Ja, Thaggoran war wichtig gewesen, aber nicht unersetzlich. Keiner war das. Sie hatte sich dagegen gewehrt, sich von seinem Tod entmutigen zu lassen. Thaggoran oder nicht, sie würden weiterziehen, weiter und weiter und weiter, bis sie Pfade über den ganzen runden Bauch der Welt gezogen hatten, sofern das sich als notwendig erweisen sollte, denn es war ihre Bestimmung, weiterzuschreiten, bis sie erreicht hatten, wozu immer sie in die Welt gerufen worden waren. Sie waren besondere Leute, dieser ihr Stamm. Das wußte Koshmar. Und sie – sie war eine besondere Führerin. Auch dessen war sich Koshmar gewiß. Und nichts würde sie von dieser Überzeugung abbringen können.
     Manchesmal hatte sie auf diesen langen Märschen – wenn sie auch nur ein bißchen schwankend wurde, wenn Übermüdung und Sonnenglast und die trockenen kalten Winde Zweifel und Furcht und Schwäche in ihre Seele trugen – den Geist Thaggorans aus dem Tod heraufbeschworen in ihrem Herzen und ihn dazu benutzt, ihre Entschlossenheit zu bestärken. »Was sagst denn du dazu, Alter Mann?« fragte sie den Geist Thaggorans dann. »Sollen wir umkehren? Sollen wir irgendwo einen sicheren Berg suchen und uns einen neuen Kokon graben?«
    Und Thaggoran grinste sie dann an. Er neigte sich ganz nah zu ihr, und seine wäßrigen rotlidrigen alten Augen blickten forschend in die ihren, und er sagte dann meist: »Du redest törichtes Zeug, Weib.«
    »Tu ich das? Wirklich?«
    »Du bist geboren, um uns aus dem Kokon herauszuführen. Das fordern die Götter von dir.«
    »Die Götter! Wer wüßte den Willen der Götter?«
    »Eben«, sagte dann der alte Thaggoran meistens. »Es steht uns nämlich nicht zu, den Versuch zu unternehmen, die Götter begreifen zu wollen. Wir sind nur hierhergesetzt, um ihr Geheiß zu tun, Koshmar. He? Was sagst jetzt du dazu, Koshmar?«
    Und dann sagte sie meist: »Wir werden weitergehen, Alter Mann. Du könntest mich nie zum Umkehren überreden.«
    »Das würde ich auch niemals versuchen«, sagte der Geist Thaggorans, wurde nebelhaft und durchscheinend und entschwand ihren Blicken.
    Koshmar blickte angestrengt nach Westen und versuchte aus dem abweisenden, flachen blauen Himmel die Vorzeichen abzulesen. Im Norden hing ein Zug weicher weißer Wolken, sehr hoch und mit weiten Zwischenräumen. Gut so. Graue, tief und schwer herabhängende Wolken waren schneeträchtige Wolken. Aber solche sah sie jetzt nirgendwo. Diese Wolken da droben bargen keinen Anlaß zu Besorgnis. Nach Süden hin sah sie einen Streifen wirbelnden Staubes über dem Horizont. Das allerdings konnte alles mögliche bedeuten. Stürme, die über das trockene Land herfielen, vielleicht. Oder eine Herde gewaltiger schwerhufiger Tiere, die dort dahindonnerte. Oder aber sogar ein feindliches Heer im Anzug. Es konnte alles sein und jedes.
    »Koshmar?«
    Harruel war an ihre Seite auf dem kleinen Hügel getreten, ohne daß sie dessen gewahr geworden wäre. Er stand, turmhoch, halb hinter ihr, eine mächtige, kraftstrotzende, breitschulterige Gestalt mit riesenhaften Unterarmen, anderthalb mal so groß wie Koshmar, und warf einen riesigen Schatten zur einen Seite, der sich wie ein schwarzer Mantel über den Erdboden breitete. Sein Pelz war von einem düsteren gelbroten Ziegelton, büschelhaft von den Wangenknochen und dem Kinn zu einem dichten verfilzten wilden roten Bart sprossend, unter dem seine Gesichtszüge nahezu versteckt lagen, so daß man nur noch die scharfen blauschwarzen Augen hindurchfunkeln sah.
    Es erzürnte Koshmar, daß Harruel so insgeheim sich ihr genähert hatte und nun so dicht bei ihr stand, stumm – und irgendwie unausgesprochen einen Mangel an Respekt demonstrierend.
    Kühl fragte sie: »Ja, was gibt es denn, Harruel?«
    »Wie bald werden wir das Lager abbrechen, Koshmar?«
    Sie hob die Schultern. »Das habe ich noch nicht entschieden. Wieso fragst du?«
    »Sie fragen mich. Dem Stamm gefällt es hier nicht. Die Leute finden es hier zu trocken… zu… tot. Sie wollen zusammenpacken und weiterziehen.«
    »Wenn der Stamm Fragen hat, dann sollte er sie vor mich bringen, Harruel.«
    »Aber du warst nirgendwo zu finden. Also haben wir angenommen, daß du mit Torlyri unterwegs bist. Und sie haben mich

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