Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
bei der Neubesiedlung der Welt mit Völkern sein mögen… «
    Hresh starrte sie an, rührte aber keinen Finger.
    »Nun mach schon und schreib dies nieder. Du kannst doch wirklich schreiben, oder? Du stiehlst mir doch nicht etwa die Zeit mit solchem Firlefanz? Oder? Hast du etwa wirklich…? Schreib, Hresh, oder bei Dawinno, ich laß dir die Haut abziehen für ein Paar Pelzstiefel für diese saukalten Nächte! Schreib!«
    »Ja«, flüsterte er. »Ja, ich werde schreiben.«
    Er drückte die fleischigen Polster seiner Finger auf die Seite, sammelte die ganze Kraft seines Gehirns in einen Punkt und sandte holterdipolter die von Koshmar diktierten Worte in einem wilden, verzweifelten Sturzbach von Worten auf das empfindliche Velinpergament. Und zu seiner erstaunten Bestürzung begannen sich sofort Schriftcharaktere abzuzeichnen: dunkelbraun auf dem gelben Grund. Schrift! Er schrieb wahrlich und wahrhaftig, er schrieb im Buch des Auszugs! Seine Schrift war nicht so geschliffen und kultiviert wie die Thaggorans, nein, aber sie war gut genug, eine wirkliche klare und verständliche Schrift.
    »Laß mich mal sehen!« sagte Koshmar.
    Sie beugte sich nahe heran, spähte, nickte.
    »Ah ja. Du hast die Gabe, wirklich. Du kleiner Unruhestifter und Fragesack, du kannst ja wahrhaftig schreiben! Ja. Ja.« Sie schob die Lippen vor und packte das Buch an den Rändern mit festem Griff, und dann kniff sie die Augen zusammen und ließ den Finger über die Seite gleiten, runzelte die Stirn und begann nach kurzem murmelnd zu lesen: »Also beschloß der Häuptling Koshmar, daß der Stamm sich auf die Suche nach der Großen Stadt Vengiboneeza der Saphiräugigen…«
    Das kam der Sache ziemlich nahe, aber die Worte, die sie jetzt vorlas, waren nicht ganz jene, die Koshmar gerade kurz vorher gesprochen und die Hresh niedergeschrieben hatte. Wie konnte so etwas sein? Er reckte den Kopf vor und starrte auf das Buch in ihren Händen. Der von ihm geschriebene Text begann dort noch immer so: »Es wurde aber sodann von Häuptling Koshmar beschlossen…« War es denkbar, daß Koshmar selbst nicht lesen konnte, daß sie sich selbst aus dem Gedächtnis zitierte? Das war bestürzend. Aber nach kurzem Überlegen erkannte Hresh, daß es wirklich gar nicht so erstaunlich war.
    Ein Häuptling brauchte die Kunst des Lesens nicht zu beherrschen. Dafür hatten Führer ihre Chronisten…
    Und kurz darauf begriff Hresh noch etwas ebenfalls Bestürzendes, nämlich daß man ihm soeben Ziel und Bestimmungsort preisgegeben hatte, auf die sie während all dieser Monde zugewandert waren. Bis zu diesem Augenblick hatte sich die Führerin standhaft geweigert, das Ziel ihrer Wanderschaft irgendwem zu eröffnen. Und Hresh war dermaßen befangen und eingefangen gewesen von seinem Akt des Schreibens, daß er den Worten, die Koshmar geäußert hatte, keine Beachtung schenkte. Jetzt aber ging ihm deren Bedeutung auf.
    Vengiboneeza! Sein Herz pochte fühlbar heftiger.
    Bald würden sie sich auf die Suche machen nach dieser prunkvollsten, prächtigsten Stadt der Großen Welt!
    Ich hätte es erraten müssen, dachte Hresh, zerknirscht. Thaggoran hatte nämlich darüber manchmal gesprochen, wie es im Buch des Weges geschrieben ste he, daß mit dem Ende des Winters das Volk aus seinen Kokons hervorkommen und mitten in den Trümmern der Großen Welt alle Dinge finden werde, die es brauchte, um sich zu Beherrschern des Planeten zu machen. Und wo konnte es einen besseren Ort geben, nach solchen Dingen zu suchen, als in der ehemaligen alten Hauptstadt der Saphiräugigen? Vielleicht war auch Koshmar auf diesen Gedanken gekommen; oder aber Thaggoran hatte ihn ihr aller Wahrscheinlichkeit nahegelegt. Vengiboneeza! Also wirklich, dachte Hresh, das Leben hat sich in einen Traum verwandelt.
    Er hob die Augen zu Koshmar. »Also, bin ich nun der neue Chronist?« fragte er.
    Sie blickte ihn fest und prüfend an. »Wie alt sagtest du, bist du an Jahren? Neun?«
    »Nicht ganz neun.«
    »Nicht ganz neun Jahre.«
    »Aber ich kann lesen. Ich kann schreiben. Ich habe schon viele Dinge gelernt, und ich steh doch erst am Anfang, Koshmar!«
    Sie nickte. »Ja, so ist es wohl«, sagte sie. »Und vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, wie ich dich unter Kontrolle halten kann, wie, Hresh? Hresh-der-Fragesack? Also wirst du diese Bücher lesen, und sie werden dir einige deiner Fragen beantworten und dir so viele neue Fragen stellen, daß du dermaßen viel mit deinen Büchern zu tun haben und

Weitere Kostenlose Bücher