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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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helfen, damit fertig zu werden. Das Leben zu meistern, ist die essenzielle Fertigkeit, die wir ihr vermitteln müssen. Leider vermittelt die Schule diese Fertigkeit nicht. Wenn die Eltern sie nicht besitzen - und ich möchte betonen, dass ich damit jetzt nicht Sie meine -, bestehtdie Gefahr, dass auch die Kinder sie niemals erwerben.« Sie atmete tief durch und lächelte. Ihre Zähne waren fleckig von Kaffee und Nikotin, und sie hatte die welke Haut einer lebenslangen Raucherin.
    Kendra gefiel es überhaupt nicht, dass diese Frau ihr einen Vortrag hielt. Sie war durchaus in der Lage zu erkennen, dass Fabia Bender es gut meinte, aber die Art und Weise, wie sie es vorbrachte, führte nur dazu, dass Kendra sich minderwertig fühlte. Und dieses Gefühl, einer weißen Frau unterlegen zu sein - wo sie doch selber zum Teil weiß war -, war der sicherste Weg, Kendras Feindseligkeit zu wecken. Fabia Bender hatte nicht den Schimmer einer Ahnung von dem Chaos und der Tragik von Vanessa Campbells Kindheit, und da Kendra gekränkt war, gedachte sie auch nicht, die andere Frau ins Bild zu setzen.
    Obwohl sie es gerne gewollt hätte. Nicht weil sie glaubte, dass diese Information in irgendeiner Weise helfen würde, sondern weil sie der Sozialarbeiterin damit den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Sie wollte sich vor ihr aufbauen und ihr die Geschichte ins Hirn rammen: Zehn Jahre alt war Ness gewesen, als sie an einem Samstag darauf wartete, dass ihr Daddy sie wie immer vom Ballettunterricht abholte. Ganz allein hatte sie dort draußen gestanden. Sie wusste genau, sie durfte unter keinen Umständen allein, ohne erwachsene Begleitung, die A 40 überqueren, um nach Hause zur Old Oak Common Lane zu gelangen. Sie hatte Angst bekommen, weil er nicht kam, und dann das Heulen der Sirenen gehört. Schließlich hatte sie sich doch über die stark befahrene Straße gewagt, denn was blieb ihr übrig, als sich auf den Heimweg zu machen? Und so war sie zu der Stelle gekommen, wo er lag. Eine Meute Schaulustiger hatte sich bereits versammelt, und um seinen Kopf bildete sich eine Blutlache. Joel kniete neben dem Körper und rief immer wieder: »Dad! Dad!«, während Toby mit ausgestreckten Beinen auf der Straße saß, den Rücken an das Schaufenster des Spirituosenladens gelehnt, und weinte, weil er mit seinen drei Jahren noch nicht begreifen konnte, dass sein Vater gerade auf offener Straße erschossen worden, zwischen die Fronten eines
    Drogenkriegs geraten war, mit dem er nicht das Geringste zu tun hatte. Wer war Ness für all diese Leute: die Cops, die Meute, die Rettungssanitäter und den Notarzt, der schließlich eintraf, um das ohnehin Offensichtliche amtlich zu machen? Nur ein schreiendes kleines Mädchen in einem Tutu, das sich kein Gehör verschaffen konnte.
    Sie wollen wissen, warum?, wollte Kendra die weiße Frau fragen. Ich kann Ihnen sagen, warum.
    Aber das war nur ein Teil der Geschichte. Nicht einmal Kendra kannte den Rest.
    Fabia Bender unterbrach ihre Gedanken. »Wir müssen ihr Vertrauen gewinnen, Mrs. Osborne. Eine von uns beiden muss eine Verbindung zu dem Mädchen herstellen. Das wird nicht leicht, aber es muss sein.«
    Kendra nickte. Was sonst hätte sie tun können? »Verstehe«, antwortete sie. »Kann ich sie jetzt mit nach Hause nehmen?«
    »Ja, natürlich. Gleich.« Dann machte die Sozialarbeiterin es sich auf ihrem Stuhl erst richtig bequem, und ihre Körpersprache verriet, dass diese Unterhaltung noch lange nicht vorüber war. In den Wochen seit ihrem ersten Anruf bei Mrs. Osborne habe sie einige Informationen über Vanessa sammeln können. Nicht nur die Schulleitung der Wood Lane School in East Ac- ton, sondern auch die dortige Polizei hatte ihr bereitwillig Auskunft erteilt. Darum wusste Fabia Bender über die Familiengeschichte Bescheid, aber sie spürte, dass da noch mehr war als ein toter Vater, eine Mutter in der Psychiatrie, zwei Brüder und eine Tante ohne eigene Kinder. Wenn Kendra Osborne gewillt wäre, die Lücken in dem Bild zu schließen, das die Sozialarbeiterin sich gemacht hatte ...
    Dass Fabia Bender also doch einige der Familiengeheimnisse kannte, führte nur dazu, dass Kendras Unbehagen wuchs, das Unbehagen - und die Antipathie gegen diese andere Frau, vor allem gegen ihren Akzent. Fabias wohlmodulierte Sprache verriet eine Herkunft aus der gehobenen Mittelschicht. Ihre Wortwahl ließ auf einen Universitätsabschluss schließen. Ihre sicheren Umgangsformen bewiesen, dass sie ein privilegiertes
    Leben

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