Am Ende war die Tat
hatte, als sie hatte retten können, lag es nicht daran, dass es ihr an Engagement mangelte oder an Glauben an das Gute im Menschen. Sie stand jeden Tag mit der Gewissheit auf, dass sie genau da war, wo sie sein sollte, und genau das tat, wofür sie bestimmt war. Jeder neue Morgen barg das Versprechen auf ungeahnte Möglichkeiten. Und jeder Abend war eine Gelegenheit zu reflektieren, wie sie die Chancen des Tages genutzt hatte. Sie kannte weder Entmutigung noch Verzweiflung. Sie hatte längst begriffen: Veränderungen konnte man nicht über Nacht bewirken.
»Ich will nicht so tun, als sei ich glücklich darüber, dass Sie meine Anrufe nicht erwidert haben, Mrs. Osborne«, sagte sie. »Hätten Sie mich angerufen, wären wir jetzt vielleicht nicht hier. Ich muss Ihnen ganz offen sagen, dass ich diese Situation teilweise für ein Ergebnis von Vanessas notorischer Schwänzerei halte.«
Das war keine Eröffnung, die eine unmittelbare Verständigung versprach. Kendra reagierte, wie man es von einer stolzen Frau erwarten konnte: Sie fühlte sich gekränkt, und das machte sie wütend. Ihre Haut wurde so heiß, als könnte sie jeden Moment von ihren Knochen herunterschmelzen, und das bewog sie nicht gerade, offen auf die andere Frau zuzugehen. Sie schwieg.
Fabia Bender änderte die Strategie. »Es tut mir leid. Es war nicht richtig, das zu sagen. Ich habe nur meiner Frustration Luft gemacht. Ich fange noch einmal von vorn an. Mein Ziel war immer nur, Vanessa zu helfen, und ich glaube daran, dass Bildung zumindest ein Schritt in die richtige Richtung ist, um einen jungen Menschen auf den rechten Pfad zu bringen.«
»Meinen Sie etwa, ich hätte nicht versucht, sie zur Schule zu schicken?«, konterte Kendra, und wenn sie verletzt klang - was der Fall war -, lag es daran, dass sie das Gefühl hatte, als Ersatzmutter für Ness versagt zu haben. »Ich habe alles versucht! Aber nichts hat gefruchtet. Ich habe ihr wieder und wieder gesagt, wie wichtig die Schule ist. Ich habe sie persönlich an der Schule abgeliefert, nachdem ich mit diesem Typen von der Schulaufsicht gesprochen hatte. Ich habe getan, was er wollte. Ich habe sie bis an die Tür gebracht und gewartet, bis sie hineinging. Ich habe versucht, sie unter Hausarrest zu stellen, als sie wieder blaugemacht hat. Ich habe ihr gesagt, wenn sie sich nicht zusammennimmt, wird sie genau da landen, wo sie jetzt gelandet ist. Nichts hat geholfen. Sie ist dickköpfig und wild entschlossen ...«
Fabia hob beide Hände. Es war eine Geschichte, die sie seit so vielen Jahren von so vielen Erziehungsberechtigten gehört hatte - meistens weiblichen Geschlechts und von einem nichts-nutzigen Mann sitzen gelassen worden -, dass sie sie mühelos von Anfang bis Ende selbst hätte erzählen können. Sie hatte es mit Müttern zu tun, die sich verzweifelt die Haare rauften, und mit Kindern, deren Flehen um Verständnis zu lange als Trotz oder Depression missverstanden worden war. Das einzige Heilmittel gegen diese Misere war offene Kommunikation. Aber die Eltern, die doch eigentlich da sein sollten, um ihren Kindern bei der großen Reise durchs Leben zu helfen, hatten oft genug in ihrer Jugend selbst niemanden gehabt, der ihnen geholfen hätte. Und so kam es, dass ein Blinder versuchte, einen zweiten auf einem Pfad zu führen, den sie beide nicht kannten.
»Noch mal, verzeihen Sie mir, Mrs. Osborne«, sagte sie. »Ich bin nicht hier, um Schuld zuzuweisen, sondern um zu helfen. Können wir noch einmal von vorn anfangen? Bitte, setzen Sie sich.«
»Ich will Ness jetzt nach ...«
»Hause bringen. Ja, ich weiß. Kein Mädchen in ihrem Alter gehört auf ein Polizeirevier, da stimme ich ihnen aus vollem Herzen zu. Und Sie werden sie auch mit nach Hause nehmen können. Aber vorher würde ich gerne mit Ihnen reden.«
Das Verhörzimmer sah genau aus wie jenes, in dem Ness und Sergeant Starr warteten. Kendra wollte ihm so schnell wie möglich entkommen, aber da sie gemeinsam mit Ness entkommen wollte, kam sie der Bitte der Sozialarbeiterin nach. Sie ließ sich auf einem der Plastikstühle nieder und vergrub die Hände in den Taschen ihrer Strickjacke.
»Wir stehen in dieser Sache auf derselben Seite«, versicherte Fabia Bender, als sie sich am Tisch gegenübersaßen. »Wir beide wollen Vanessa auf den rechten Weg bringen. Wenn ein Mädchen eine völlig falsche Richtung einschlägt, so wie sie, gibt es dafür meistens einen Grund. Wenn wir verstehen lernen, was Vanessas Grund ist, können wir ihr
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