Am Ende war die Tat
führte. All das summierte sich in Kendras Augen zu einer Person, die niemals würde verstehen können, mit welchen Problemen sie es zu tun hatte, geschweige denn einen Ausweg finden konnte.
»Scheint, Sie haben die Lücken alle schon selbst gefüllt«, antwortete Kendra knapp.
»Nur einige, wie gesagt. Aber was ich besser verstehen muss, ist der Grund für Vanessas Zorn.«
Frag doch ihre Großmutter, wollte Kendra erwidern. Stell dir doch nur mal vor, wie es ist, mit Glory Campbells ewigen Lügen leben zu müssen und andauernd von ihr im Stich gelassen zu werden. Aber Glory Campbell und die Art und Weise, wie sie ihre drei Enkel vor Kendras Tür abgeladen hatte, war die Sorte schmutzige Wäsche, die sie vor den Augen dieser weißen Frau nicht zu waschen gedachte. Also stellte sie ihr eine logische Frage: Wie viel mehr als einen toten Vater und eine Mutter in der Psychiatrie brauchte man, um Ness' Zorn zu verstehen? Und was hatte das Verständnis ihres Zorns damit zu tun zu verhindern, dass sie ihr Leben ruinierte? Denn, erklärte Kendra der Sozialarbeiterin, ihr werde zunehmend klar, dass Ness sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr Leben zu zerstören, und zwar gründlich. Sie sah es bereits als gescheitert an und hatte offenbar beschlossen, mit Pauken und Trompeten unterzugehen. Den Prozess sogar noch zu beschleunigen. Denn wenn die Zukunft gleichgültig war, war alles gleichgültig.
»Sie sprechen wie jemand, der das aus eigener Anschauung kennt«, sagte Fabia Bender behutsam. »Gibt es einen Mr. Osborne?«
»Nicht mehr«, antwortete Kendra.
»Geschieden?«
»So ist es. Aber was hat das mit Ness' Schwierigkeiten zu tun?«
»Das heißt, es gibt keine männliche Bezugsperson in Vanessas Leben? Keine Vaterfigur?«
»Nein.« Kendra erwähnte weder Dix noch The Blade und auch nicht den Männergeruch, der seit Monaten an ihrer Nich-te haftete. »Hören Sie, ich glaube gern, dass Sie es gut meinen. Aber ich möchte sie jetzt mit nach Hause nehmen.«
»Das verstehe ich. Dann bleibt nur noch eines, was wir besprechen müssen: ihre Gerichtsverhandlung.«
»Sie hat noch nie irgendwelche Schwierigkeiten gehabt«, bemerkte Kendra.
»Bis auf die Kleinigkeit, dass sie ständig die Schule schwänzt«, widersprach Fabia. »Das wird in den Augen des Richters nicht gerade für sie sprechen. Ich werde tun, was ich kann, damit sie auf Bewährung und nicht zu Jugendhaft verurteilt wird.«
»Verurteilt? Für einen Raubüberfall, der nicht einmal passiert ist? Während Drogendealer, Autodiebe, Einbrecher und alle möglichen anderen Verbrecher da draußen herumlaufen? Da soll ausgerechnet sie diejenige sein, die eingesperrt wird?«
»Ich muss dem Richter einen Bericht vorlegen, Mrs. Osborne. Er wird ihn vor der Verhandlung lesen. Lassen Sie uns das Beste hoffen.« Sie stand auf. Kendra folgte ihrem Beispiel.
An der Tür hielt Fabia Bender noch einmal inne. »Irgendwer muss ein Band zu diesem Mädchen knüpfen. Irgendwer außer den Freunden, die sie sich derzeit aussucht. Das wird nicht leicht. Sie hat sehr gute Abwehrmechanismen. Aber es muss passieren.«
In den Tagen nach Ness' Festnahme war die Stimmung am Edenham Way 84 aufs Äußerste angespannt. Daher beschloss Joel, nicht bis zu Tobys nächstem Geburtstag zu warten, ehe er das »Es ist ein Junge!«-Banner aufhängte. Er wollte schließlich nicht nur wiedergutmachen, was am Geburtstag passiert war, sondern glaubte auch, dass es wichtig sei, seinen kleinen Bruder von den Dingen abzulenken, die derzeit in Ness' Leben passierten, damit er sich nicht von der Familie zurückzog und auf unbestimmte Zeit in seiner eigenen Welt einschloss. Also hängte er das Banner an das Fenster ihres Zimmers und war gespannt darauf, was Toby sagen würde. Dieses Mal brauchte er keine Briefmarken. Er hatte Mr. Eastbourne um ein paar Streifchen Tesafilm gebeten, die er auf der Plastikhülle eines
Schreibheftes nach Hause transportierte und daher leicht wieder ablösen konnte.
Doch Joel hätte sich die ganze Mühe sparen können. Toby mochte das Banner - wenn auch nicht so sehr wie seine Lavalampe -, aber er bedurfte keiner Ablenkung, da er von Ness' Schwierigkeiten überhaupt nichts mitbekam. Nicht etwa, weil er so oft in seiner Traumwelt weilte; vielmehr schien er inzwischen täglich Nachrichten von dort zu erhalten. Was seinen Geburtstagsabend anging, so hatte er offenbar kaum Erinnerungen daran. Er wusste noch, dass es Curry gegeben hatte und Naanbrot mit Mandeln, Rosinen und Honig, und
Weitere Kostenlose Bücher