Am Ende zählt nur das Leben
alle gemeinsam ins Fußballstadion. Obwohl es bitterkalt war und die Ränge nur mäßig gefüllt waren, genossen wir den gemeinsamen Samstag. Mein Schwager und Cay tauschten sich über die Spieler, Trainer und ihre Taktik aus, während wir anderen versuchten, uns mit Gesängen und Gejohle aufzuwärmen. Es war ein gutes Spiel, und der Nachmittag verging wie im Fluge.
»Der ist ja doch ganz nett«, sagte Anja, als wir später allein in der Küche waren.
»Was dachtest du denn? Er ist ja schließlich mein Freund.«
»Vielleicht hat dein Cay sich geändert. Es kommt mir fast so vor, als hätte er sich an uns und unsere große Familie gewöhnt. Auch wenn wir uns nicht immer in allem verstehen, so sagen wir uns doch wenigstens offen und ehrlich die Meinung. Kann gut sein, dass es ihm gefällt.«
»Du meinst, er wird vielleicht sogar noch ein Familienmensch? Das würde ich mir so sehr wünschen. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ihr euch alle versteht oder zumindest akzeptiert.«
»Ja, das wäre schön.«
»Und wie! Ach, Anja, ich würde mich so freuen.«
»Du bist und bleibst eine Harmoniebedürftige.«
»Du etwa nicht?«, wollte ich von meiner großen Schwester wissen.
»Doch, natürlich, aber ich muss glücklicherweise nicht so viel dafür tun. Da passt das meiste von allein.«
»Cay ist nun mal anders.«
»Er ist kein schlechter Kerl. Das habe ich heute gemerkt. Aber am Telefon klingst du manchmal gar nicht so glücklich.«
»Mir fehlen die Heimat, mein Zuhause und meine Freunde. Hier unten ist alles anders.«
»Warum kommt ihr nicht beide zurück in den Norden?«
»Für Cay ist das schwierig. Er hat hier einen guten Job. Demnächst wird er befördert und hat dann über zwanzig Mitarbeiter unter sich. Und außerdem sind die Berge von hier aus so nah. Cay geht gern Skilaufen, und die Ausflüge in die Alpen sind uns lieb geworden.«
»Das wird schon alles«, sagte sie tröstend.
»Hoffentlich.«
Zwölf Stunden vor dem Beginn des Jahres 2003 fiel unser erster gemeinsamer Startschuss zum Silvesterlauf. Als ich die vielen Sportler sah, die sich in der Startzone warm liefen, steigerten sich meine Nervosität und die Befürchtung, es nicht zu schaffen. In meinen Augen sahen die anderen Athleten – im Gegensatz zu mir – fit und bestens vorbereitet aus. Ich hüpfte von einem Bein aufs andere und versuchte meine Aufregung in den Griff zu bekommen.
Cay hingegen war zuversichtlich und freute sich wie ein kleiner Junge auf den gemeinsamen Wettkampf. Nachdem wir die Startnummern an unsere Trikots geheftet hatten, sahen wir beinah wie erfahrene Wettkämpfer aus. Wir reihten uns frühzeitig in das hintere Drittel des Starterfelds ein und warteten auf den Schuss. Mit einem lauten Knall ging es endlich los! Als sich nach einigen Hundert Metern das Gedränge lichtete, gab Cay das Tempo vor. Dabei orientierte er sich perfekt an meinen Möglichkeiten. Er spürte genau, wie schnell ich laufen konnte und wie viel Kondition ich hatte. Wie ein Coach zog er mich durch die Stadt, und meine Schritte wurden immer leichter. Als ich nach acht Kilometern einen kleinen Durchhänger bekam, spornte er mich an. Es machte richtig Spaß, und als mein Personal Trainer auf den letzten hundert Metern vor der Ziellinie meine Hand nahm und wir gemeinsam die Zeitmessung durchliefen, war ich zwar erschöpft, doch mächtig stolz und überglücklich. Wir lagen uns in den Armen, und er überschüttete mich mit Lob.
»Super, meine Süße. Ganz toll, wie du das gemacht hast.«
»Danke! Das habe ich dir zu verdanken«, sagte ich vollkommen außer Atem.
»Das machen wir nächstes Jahr wieder! Was meinst du?«
»Abgemacht!«, sagte ich, obwohl ich einfach nur noch sitzen wollte und mir angesichts meiner schweren Beine nicht vorstellen konnte, jemals wieder freiwillig eine ganze Stunde am Stück in Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt zu rennen.
Wenig später rief ich Anja an, um von meiner Heldentat und dem Zieleinlauf zu berichten.
»Wie romantisch, Hand in Hand. Da kann man ja richtig neidisch werden. Ich freue mich für dich«, sagte meine Schwester.
Alles wird gut, dachte ich.
Schwanger
Im folgenden Sommer beschlich mich ein süßer Verdacht. Aufgeregt ging ich in die Apotheke, um einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Es war meine erste Erfahrung mit solch einem Test, und sichtlich nervös öffnete ich die Packung. Gemeinsam lasen Cay und ich die Beschreibung und schauten uns den Teststreifen an. Dann ging ich damit ins
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