Am ersten Tag - Roman
begleitet von einer heftigen Erschütterung. Der Jeep war im Gelben Fluss gelandet.
Ich sah Keira an, sie hatte eine hässliche blutende Wunde auf
der Stirn, doch sie war bei Bewusstsein. Der Wagen schwamm auf dem Wasser, was allerdings nicht andauern würde, die Kühlerhaube tauchte bereits langsam ein.
»Wir müssen hier raus!«, rief ich Keira zu.
»Ich bin eingeklemmt, Adrian.«
Durch die Wucht des Aufpralls war der Beifahrersitz aus der Schiene gerutscht, der Mechanismus des Sicherheitsgurts war unzugänglich. Ich zerrte mit aller Kraft daran, doch es half nichts. Ich hatte mir offenbar eine Rippe gebrochen, denn bei jedem Atemzug zuckte ein heftiger Schmerz durch meinen Brustkorb. Es tat höllisch weh, doch ich musste Keira befreien, denn das Wasser drang schon ins Wageninnere. Es stieg weiter an, wir spürten es an unseren Füßen, die Windschutzscheibe gab nach.
»Geh, Adrian, geh, so lange es noch Zeit ist!«
Auf der Suche nach irgendetwas, womit ich den verdammten Gurt zerreißen könnte, wandte ich mich um. Der Schmerz war kaum auszuhalten, ich rang nach Luft, doch ich gab nicht auf. Ich beugte mich über Keiras Knie und versuchte, das Handschuhfach zu öffnen. Sie strich mir liebevoll übers Haar.
»Du bekommst mich nicht hier raus«, murmelte sie, »du musst dich retten.«
Ich nahm ihren Kopf in meine Hände, und wir küssten uns. Nie werde ich den Geschmack dieses Kusses vergessen. Keira betrachtete ihren Anhänger und lächelte.
»Nimm ihn«, sagte sie, »damit wir uns nicht umsonst so bemüht haben.«
Das wollte ich nicht, ich würde sie nicht im Stich lassen, ich würde bei ihr bleiben.
»Ich hätte Harry so gerne ein letztes Mal gesehen.«
Das Wasser stieg weiter, wir trieben langsam in der Strömung.
»Bei der Klausur habe ich nicht gemogelt«, sagte sie, »ich wollte nur deine Aufmerksamkeit erregen, weil du mir schon damals gefallen hast. In London bin ich am Ende deiner Straße umgekehrt, und wäre nicht ein Taxi vorbeigekommen, wäre ich zurückgekehrt und hätte mich neben dich gelegt, aber ich hatte Angst, Angst, mich zu sehr in dich zu verlieben, denn weißt du, ich war es ja ohnehin schon.«
Wir hielten uns fest umarmt. Der Jeep sank weiter. Das Wasser reichte uns jetzt bis zu den Schultern. Keira fröstelte, die Angst war der Trauer gewichen.
»Du hast mir eine Liste versprochen, die musst du mir jetzt schnell sagen.«
»Ich liebe dich.«
»Das ist eine schöne Liste, eine schönere hättest du gar nicht finden können.«
Ich lasse dich nicht allein, meine Geliebte, bis zum Ende bin ich bei dir geblieben und auch danach noch. Ich küsste dich, und als die Fluten des Gelben Flusses uns überspülten, schenkte ich dir meinen letzten Atemhauch. Die Luft in meiner Lunge war die deine. Du hast die Augen geschlossen, als das Wasser unsere Gesichter bedeckte. Ich hielt die meinen geöffnet bis zum letzten Moment. Ich hatte im tiefsten Universum, in den entferntesten Galaxien eine Antwort auf meine Kinderfrage suchen wollen, und du warst da, ganz nah bei mir. Du hast gelächelt, deine Hände klammerten sich an meinen Schultern fest, und ich spürte keinen Schmerz mehr, meine Liebste. Dann lockerte sich deine Umarmung, das waren meine letzten Augenblicke mit dir, meine letzten Erinnerungen, meine Geliebte, denn als ich dich verlor, verlor ich auch das Bewusstsein.
Hydra
Ich sitze auf der Terrasse meiner Mutter und fülle die Seiten dieses Heftes aus. Oft wandert mein Blick aufs Meer.
Fünf Tage nach dem Unfall kam ich im Krankenhaus von Xi’an wieder zu mir. Fischer, so erzählte man mir, hätten mir das Leben gerettet. Sie hatten mich in letzter Sekunde aus dem Jeep zogen, den sie in den Fluss hatten stürzen sehen. Das Autowrack war abgetrieben, Keiras Leiche wurde nicht gefunden. Das war vor drei Monaten, und es vergeht kein Tag, ohne dass ich an sie denke. Nicht eine Nacht schließe ich die Augen, ohne dass sie neben mir schläft. Noch nie habe ich einen so starken Schmerz empfunden. Meine Mutter übt keine Kritik mehr, so als hätte sie erraten, dass sie dem Kummer, der unser Haus erfüllt, nichts mehr hinzufügen darf. Abends essen wir gemeinsam auf dieser Terrasse, auf der ich schreibe. Ich schreibe, weil das der einzige Weg ist, Keira wieder zum Leben zu erwecken. Ich schreibe, denn jedes Mal, wenn ich von ihr spreche, ist sie da wie ein getreuer Schatten. Nie mehr werde ich den Duft ihrer Haut einatmen wie früher, wenn sie an mich geschmiegt schlief, nie mehr ihr
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