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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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schützen sollte. Und was hatte es ihm genutzt? Was hatte es der Memsahib geholfen?
    Trotzdem kam er nicht umhin, die Memsahib für ihre Stärke zu bewundern. Für ihren Mut und ihren unerschütterlichen Glauben, ihr Gott werde sich das Kind schon nicht holen. So sprachen nämlich die Weißen vom Tod – dieses Kind ging nicht zu den Ahnen, sondern es wurde von ihrem Gott geholt. Das fand Kinyua so grausam, aber er wusste, dass auch manches, was die Kikuyu mit ihren Toten machten, für die Weißen unverständlich war. Dabei war es so viel besser – sie brachten ihre Toten zurück in den Busch, zu Ngai, und Ngai nahm sich der Toten an, und sie wurden mit dem Übertritt in die neue Welt zu den Ahnen der Lebenden. Auch ein kleiner Junge gehörte nun zu den Ahnen der Memsahib.
    Außerdem, und er wusste nicht, ob das für sie ein tröstlicher Gedanke war, konnte sie noch viele Kinder bekommen. Sie trug doch bereits wieder eins unter dem Herzen, gesät vom Bwana, als dieser vor einiger Zeit zu Besuch gewesen war. Wusste sie das denn nicht? Spürte sie nicht, dass da ein Kind in ihr heranwuchs? Oder war sie vor Trauer so außer sich und vom Schmerz geblendet?
    Das war die Kehrseite, wenn die Weißen sich so sehr an ihre Kinder hängten. Kinyua hatte auch Kinder. Er liebte sie von ganzem Herzen und überwachte aus der Ferne ihr Wachsen und Wohlergehen. Doch wenn eines von ihnen starb, ehe es das Jugendalter erreichte, durfte er sich nicht allzu sehr grämen. Manchmal besann sich Ngai, manchmal war ein Kikuyu in die Welt gekommen, der nicht hierhergehörte.
    Und der kleine Chris Winston hatte nicht hierhergehört. Darum war er gestorben, am dritten Tag seiner Krankheit, und die Lücke, die er in das Herz der Memsahib gerissen hatte, war so groß und ihre Verzweiflung so heftig, dass Kinyua nicht fragte, als sie ihn nach Süden zu Bwana Winston schickte. Er fragte nicht, was es brachte, wenn Chris’ Vater doch erst eintraf, nachdem sie das Kind begraben hatten.
    Er gehorchte.
    Denn ihm zerschnitt es das Herz, sie so leiden zu sehen. Er wollte sie in den Arm nehmen und sie trösten, auch wenn er wusste, dass sie bei jeder Berührung zusammenzucken würde. Noch dazu von ihm.
    Er war nur der schwarze Verwalter. Nur der Neger, der jeden Tag aus dem Kikuyudorf kam und ihr half, die Teeplantage zu führen.
    Aber er war auch ihr Freund. Und wenn er sie so leiden sah, wollte er mehr sein als nur ein Freund. Sie sollte Trost finden bei ihm. Sie sollte sich ihm anvertrauen können, und er wollte sie trösten.
    Er wusste, nichts davon war möglich.
    Trotzdem wünschte er es sich so sehr.
     
    Die Grenze zu Tanganjika war nicht als solche zu erkennen. Er überquerte sie am frühen Abend, und dann wandte er sich Richtung Osten und lief weiter. Unterwegs hatte er Massai getroffen. Sie teilten mit ihm ihr Mahl und berichteten, die Engländer hätten eine halbe Tagesreise von hier im Osten ihr Lager aufgeschlagen.
    Er war also schon fast da, als er sich das erste Mal darüber Gedanken machte, was er sagen sollte.
    Bwana, dein Kind ist tot.
    Bwana, du musst nach Hause kommen.
    Konnte er das einfach so aussprechen? Wohl kaum.
    Schließlich war es einfacher, als er gedacht hatte. Als er sich dem Lager näherte, blieb er nicht unbemerkt. Sofort liefen die Männer zusammen, und ihm stellte sich eine weiße Wand aus Misstrauen entgegen. Kinyua versuchte, an den Männern vorbeizugelangen, doch ein Hüne stellte sich ihm in den Weg und drückte ihm die Hand auf die Brust.
    «Wo willst du hin?», schnarrte er. Sein Gesicht war dreckig, die Kleidung abgerissen und verschmutzt. Trotzdem erkannte Kinyua ihn wieder. Er gehörte zur weißen Gesellschaft Kenias, und er besaß große Ländereien, auf denen er Sisal anbaute.
    «Ich bin Bwana Winstons Mann», sagte er. Zu kompliziert, diesen Männern zu erklären, dass er niemandem gehörte, außer sich selbst. Sie mochten es außerdem, wenn man sich unterwürfig zeigte. «Bitte, darf ich zu ihm?»
    Der Hüne trat einen Schritt zurück. Er spuckte aus, strich sich über den Schnurrbart. «Hm», machte er. «Komm mit.»
    Er führte Kinyua zu einem Zelt in der Mitte des Lagers. Die ganze Zeit spürte Kinyua die misstrauischen Blicke der Männer in seinem Rücken.
    Im Zelt war es stickig, und der Mann, der hinter einem klapprigen Tisch saß, der mit Karten übersät war, kam Kinyua nicht bekannt vor.
    «Der hier will zu Winston, Sir», sagte der Hüne. Er verbeugte sich vor dem kleinen, dürren Mann, der

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