Am Fuß des träumenden Berges
zustimmend nickte.
«Ich kümmere mich darum.»
Kinyua wartete, bis die Zeltklappe sich hinter dem Riesen geschlossen hatte. Er wartete, während der Kleine sich einen Becher Wasser einschenkte und trank. Natürlich bot er Kinyua nichts an. Auch sitzen durfte Kinyua nicht, aber das wollte er auch gar nicht. Er setzte sich nur zur Memsahib, wenn sie ihn dazu aufforderte.
«Wie heißt du?»
«Kinyua, Bwana.»
«Du willst also Mr. Winston sehen?»
«Bwana Matthew Winston, ja.»
«Hm.» Der Mann nickte. «Ist eine dumme Geschichte. Wir haben keine Ahnung, wo er ist.»
Kinyua schwieg. Der Bwana sprach weiter: «Er ist nicht zurückgekommen von seinem kurzen Heimaturlaub. Ist einfach … verschwunden. Unerlaubte Entfernung von der Truppe. Oder, in weniger schönen Worten: Er ist desertiert. Ein Verräter.»
Nur die Hälfte von dem, was der Bwana sagte, verstand Kinyua. Nur so viel wusste er: Bwana Winston war nicht hier.
«Dann müssen wir ihn suchen!»
Der Offizier schüttelte bedauernd den Kopf. «Dafür haben wir weder die Zeit noch die Mittel. Vielleicht war er unvorsichtig, vielleicht hat ihn ein Löwe erwischt, wer weiß das schon hier draußen. Solange wir nichts Genaues wissen, lautet die offizielle Version, dass er desertiert ist.»
Und dieses Wort klang ganz und gar nicht, als sei es eine Auszeichnung, dachte Kinyua.
Wie sollte er das nur der Memsahib beibringen?
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27 . Kapitel
Sie lebte in einem Kokon aus Schmerz, und darin war sie ganz allein gefangen. Sie lag in dem kleinen Bettchen, in dem Chris gestorben war, und sie klammerte sich an sein Kopfkissen, das diesen sauberen, kindlichen Duft verströmte. Mit jedem Tag wurde dieser Duft weniger, und irgendwann, das wusste sie, würde von ihrem Sohn nichts mehr bleiben außer der Erinnerung und ein paar verblassenden Fotografien, die sie bei der letzten gemeinsamen Reise nach Nairobi in einem Studio hatten aufnehmen lassen.
Nur die Erinnerung und ein paar Fetzen Papier. Mehr blieb nicht vom Leben eines Kindes.
Am zweiten Tag war das Fieber gesunken, und sie hatte Hoffnung geschöpft, dass Dr. Markhams Medizin tatsächlich wirkte. Sie hatte sich sogar zwischendurch ein, zwei Stündchen Schlaf genehmigt, und sie hatte bei dem völlig verstörten Thomas gesessen, der litt, weil sein großer Bruder nicht bei ihm war und weil alle im Haus sich so merkwürdig verhielten. Aber dann war er doch dem Ansturm der Krankheit erlegen.
Die Reisegesellschaft war vollständig und beinahe fluchtartig abgereist. Nur Fanny war geblieben. Fanny mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. Sie hatte sich bei Audrey entschuldigt, weil sie «diese Leute» ins Haus gebracht hatte, die in Nairobi vielleicht angenehme Gesellschaft waren, hier draußen in The Brashy aber mit ihrer schrillen, rechthaberischen Art einfach unerträglich.
Audrey hatte nicht so recht zugehört. Sie hatte Chris’ Taufkleid zerschnitten, um ihm daraus ein Leichenhemdchen zu schneidern.
Ich habe ihn geboren, wir haben ihn getauft, und nun trage ich ihn allein zu Grabe.
Sie vermisste Matthew. Sollte er jetzt nicht bei ihr sein und ihren Schmerz teilen? Sollte er sie nicht trösten? Sollte die Last nicht auch auf seinen Schultern liegen?
Sie schickte Kinyua nach ihm und bereute es schon eine Stunde später, weil ihr jetzt auch er fehlte. Ihr blieb nur Fanny. Doch ihre Freundin war dem Tod noch nicht allzu oft begegnet, was sie in Zeiten der Trauer zu einer lausigen Gefährtin machte.
Audrey musste die Beerdigung organisieren. Es war ihre Aufgabe, einen Platz zu finden, wo sie Chris beisetzen konnten, und sie musste einen Brief an den Tischler in Nyeri schreiben, damit dieser für sie einen Sarg fertigte und nach The Brashy brachte. Sie gab ihn einem Läufer mit. Dann stand sie an diesem winzigen Grab und beobachtete, wie dieser kleine, viel zu kleine Sarg in die Grube hinabgesenkt wurde. Und ja, sie schrieb Briefe, an Matthews Schwester Celia, an Rose und Reggie und ihre eigenen Eltern. Sie informierte sie über den Tod ihres Kindes.
Danach war alles, was sie an Kraft hatte aufbringen können, verbraucht, und sie ging in das Kinderzimmer, legte sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Mary schlich sich auf Zehenspitzen zu ihr, stellte Tabletts mit Essen und starkem Tee hin, und ein paar Stunden später räumte sie die unangetasteten Tabletts wieder weg. Fanny blieb bei ihr sitzen, und wenn sie das Elend nicht länger mit ansehen konnte, holte sie etwas zu essen aus der
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