Am Fuß des träumenden Berges
lauschte auf die Geräusche im Haus. Es wurde zum Essen gerufen, aber sie ging nicht hinunter, obwohl sie Hunger hatte. Millie würde ihr sicher etwas aufheben. Sie legte sich einen Bogen Papier zurecht, schraubte den Füllfederhalter auf und begann zu schreiben.
Mein lieber Matthew,
heute erreichte mich dein Brief vom 17 . Februar 1910 – ich danke dir für deine Zeilen. Drei andere Briefe haben ihn überholt.
Doch ehe ich auf deine Frage eine Antwort formuliere – von der ich glaube, dass wir beide sie schon kennen, weil Verstand und Gefühl es einfach gebieten –, muss ich dir etwas erzählen. Etwas, das dich erschrecken wird, und ja, ich fürchte, es wird dich auch an mir zweifeln lassen. Wenn es so ist, Matthew, ich bitte dich: zögere nicht, dies auszusprechen. Ich wäre die Letzte, die kein Verständnis dafür hätte. Ich wäre schon froh und glücklich, dass du mich willst, ohne davon zu wissen. Und wenn du diese Zeilen liest und danach noch immer daran festhältst, mich zu dir nach Afrika zu holen … dann wäre ich sprachlos, und ich wäre voller Dankbarkeit, weil du bereit bist, eine Frau mit einem solchen Makel zu nehmen. Ich will dir gern versprechen, dass du es nicht bereuen würdest.
Letztes Jahr war ich bereits mit einem anderen Mann verlobt. Im Juli hat er die Verlobung gelöst. Es gab gute Gründe für diese Entscheidung, wenngleich es nicht die Gründe waren, die ein Mann sonst anführt, um ein Verlöbnis zu lösen. (Darum musst du dir keine Sorgen machen.)
Es passierte während der gemeinsamen Sommerfrische an der Ostsee auf der Insel Rügen. Seine Eltern hatten unsere Familie dorthin eingeladen, und …
Audrey ließ den Füllfederhalter sinken. Los, feuerte sie sich an. Sag ihm die ganze Wahrheit!
Aber sie brachte es nicht über sich.
Dies hier konnte sie nicht aussprechen oder niederschreiben. Es ging einfach nicht.
Sie saß lange da und überlegte. Endlich nahm sie allen Mut zusammen und schrieb. Sie sagte schonungslos die Wahrheit, beschönigte nichts und ließ keinen Zweifel daran, dass sie allein die Schuld an allem trug, was passiert war. Vier Seiten schrieb sie, und als sie fertig war, fühlte sie sich völlig ausgelaugt und irgendwie – friedlich.
Es hatte gutgetan, die Ereignisse niederzuschreiben. Sie musste jetzt nur noch den Mut aufbringen, den Brief abzuschicken.
Morgen, dachte sie. Morgen schicke ich ihn ab.
Als sie am nächsten Tag am Schreibtisch saß, lag dort der Brief. Gestern hatte sie ihn in einen Umschlag gesteckt, an Matthew adressiert und gegen das Tintenfass gelehnt.
Heute aber hatte sie der Mut verlassen. Sie zog ein paar Bögen Briefpapier aus der Kassette und schrieb einen zweiten Brief an Matthew. Kein Wort davon, was vor einem Jahr passiert war. Kein Wort über die Verlobung, kein Wort über Benjamin. Sie schrieb, wie sehr sie sich freute, seinen Onkel Reggie kennenzulernen, und dass ihr Vater bereits Kontakt mit ihm aufgenommen hatte. Sie schrieb davon, wie glücklich sie war.
Den anderen Brief schickte sie nie ab. Eine Woche lang stand er wie eine Mahnung auf ihrem Schreibtisch. Dann legte sie den Brief in ein Buch und stellte es zurück ins Regal.
Sie dachte oft an ihn, doch jedes Mal schreckte sie davor zurück, ihn abzuschicken. Und irgendwann, nach drei weiteren Wochen, hatte sie das Gefühl, nun sei es bereits zu spät, denn inzwischen strebte ihr Leben unaufhaltsam Matthews entgegen. Und der Brief hätte alles nur kaputt gemacht.
Als ihre Mutter nachfragte, nickte Audrey nur.
Es war ja nicht gelogen. Sie hatte ihm ja geschrieben. Sie hatte den Brief nur nie abgeschickt.
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3 . Kapitel
Ihre Mutter nahm für die geplante Abreise alles in die Hand.
Ende April machte sie sich daran, ihre Aussteuer durchzugehen. Seit einem Jahr hatte sie die Truhe nicht angerührt, und als sie jetzt wieder den schweren Eichenholzdeckel hochstemmte, schlug ihr ein muffiger Lavendelgeruch entgegen.
Sorgfältig breitete sie alles vor sich aus: Tischdecken, Batistservietten, Schürzen, Bettwäsche, Handtücher und Deckchen.
Jetzt konnte sie damit beginnen, die Monogrammstickereien zu entfernen. Sie konnte neue Monogramme einsticken, alles waschen und in eine große Truhe packen. So würden diese Dinge mit ihr nach Ostafrika reisen. Lange Winterabende hatte sie damit zugebracht, das verschlungene A und das verschnörkelte B gemeinsam einzusticken. «Ich glaube, ich werde immer das Gefühl haben, als wäre diese Ehe
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