1011 - Laurins Totenwelt
Als hätte er den besorgten Blick seiner Frau gesehen, drehte er sich um und richtete seinen Oberkörper mit einer quälenden Langsamkeit auf.
»Bill, bitte!«
Der Reporter versuchte ein Grinsen. Seine Hände preßte er gegen die getroffene Stelle. »Mist!« keuchte er. »Verdammter Mist! Die war schlauer als ich.«
»Auch als ich.«
Bill stöhnte, bevor er weitersprechen konnte. »Es brennt so!« flüsterte er. »Wie Feuer!«
»Kannst du denn hochkommen?«
»Wenn du mir hilfst.«
Sheila lächelte kantig. »Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben. John ist nicht hier, und die anderen Trauergäste stehen hier herum wie Puppen.«
»Wo ist John denn?«
»Keine Ahnung. Es sah so aus, als wäre er ins Dorf gelaufen. Er hat noch die Frau verfolgt.«
»Und was ist mit ihren Händen?« fragte Bill flüsternd.
»Die auch.«
Der Reporter senkte den Kopf. »Hoffentlich hat er Glück. Die sind gefährlich, so verdammt gefährlich.« Er stemmte sich an der Grab wand ab, um dann vorsichtig auf den mit Erde bedeckten Sargdeckel klettern zu können. »Ich habe das Gefühl, daß uns hier noch eine Hölle bevorsteht, Sheila. Das wird kein Spaß werden.«
»Ja, bestimmt.« Sie streckte ihren Arm in das Grab hinein und bekam den sich hochrappelnden Bill an den Schultern zu fassen. Da er schon auf dem Sarg stand, war es für ihn nicht ganz so schlimm und mühsam, das Grab zu verlassen. Hinzu kam noch Sheilas Hilfe.
Beschmiert und verdreckt blieb der Reporter vor dem Grab knien, den Kopf gesenkt, die Hände zwischen den Beinen. »Na ja«, sagte er leise, »es wird schon irgendwann wieder gehen. Es muß ja gehen.«
Sheila nickte nur. Sie schaute dabei über das Gelände des kleinen Dorffriedhofs hinweg.
Manchmal hatte sie den Eindruck gehabt, als wäre alles gar nicht wahr. Der Ort Pochavio, die hohen, kantigen und teilweise schneebedeckten Berge um ihn herum, das schmale Tal, in dem der Ort lag, und die Menschen, die hier lebten – nach Gesetzen wie im Mittelalter.
Sie sah das Licht, aber auch die Schatten, dieses Wechselspiel war überall zu verfolgen.
Es gab kaum Farben. Zumindest nicht im Ort selbst. Auch der Umgebung sah es nicht so gut aus. Schwarz, grau und grelles Licht herrschten vor. Allerdings weniger auf dem Friedhof, denn der wurde vom Schatten der romanischen Kirche beherrscht, als sollte der Bau Düsternis statt Hoffnung verbreiten.
Schließlich blieb Sheilas Blick an den Menschen hängen. An Frauen, Männern und Kindern. Was waren das nur für Leute, die sich den alten Regeln hingaben? Jener furchtbaren, mittelalterlichen Bestrafung für Untreue, die mit dem Abhacken der Hände gesühnt wurde.
Einheimische, Bergbauern, die nach ihren eigenen Gesetzen lebten. Sie hatten nie etwas anderes kennengelernt, sie waren immer in ihrem kleinen Kreis geblieben. Hier wurde gezeugt, geboren und auch gestorben. Was außerhalb des engen und von Touristen kaum frequentierten Tals passierte, interessierte diese Leute nicht. Es gab nur sie und ihre eigenen Gesetze. Jedem Störenfried, jedem Fremden, der sich einmischte, standen sie negativ gegenüber.
Selbst die Kinder, die mit zum Friedhof gekommen waren. Auch sie verhielten sich völlig ruhig, analog zu den Erwachsenen, zu Vätern, Müttern oder Großeltern, wie dressiert.
Sheila schaute sich die Gesichter genauer an. Nette Gesichter, in denen oft die großen, dunklen Augen auffielen. Augen, die einfach nur da waren und schauten, aber kein Leben zeigten. Sie bewegten sich nicht, sie starrten ins Nichts.
Ebenso wie die Erwachsenen. Alle hatten diesem Schrecken zugesehen. Niemand hatte sich aus seiner Starre gelöst und war den beiden Conollys zu Hilfe geeilt. Nicht einmal dem Menschen aus ihren Reihen, der von den beiden Händen gepackt und gewürgt worden war. Er lag ein Stück weiter auf dem Boden. Schwarz gekleidet. Wie ein großer Vogel, der vom Himmel auf die Erde gestürzt war.
Ob John Sinclair ihn hatte retten können, das wußten weder Sheila noch Bill. Auch die Dorfbewohner hatten sich um ihn nicht gekümmert und ihn einfach liegenlassen.
Als wäre er Abfall, dachte Sheila. Einfach nur Abfall. Sie begriff es nicht und schüttelte den Kopf, was Bill nicht verborgen geblieben war. Mit mühsamer Stimme fragte er: »Hast du was?«
»Nein, nein, schon gut. Ich habe nur gedacht.«
Er grinste bissig. »Wahrscheinlich hast du das gleiche gedacht wie ich.« Dann streckte er Sheila die linke Hand entgegen. »Bitte, hilf mir mal auf die Beine.«
»Kannst du
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