Am Fuß des träumenden Berges
wo sie sich niedergelassen hatten in den letzten Monaten, waren sie nicht willkommen.
Kinyua war der beste Schleicher unter ihnen, darum durfte er den Trupp anführen. Sie waren zu sechst: Ngengi. Iregi, der im Dunkeln besser sah als jeder andere. Der dicke Mokabi, dessen Mutter eine geraubte Massai war. Karimi, der schon drei Frauen hatte und so wenig Land bewirtschaftete, dass er sie kaum satt bekam. Und neben Kinyua Chege, der Kleinste von ihnen, aber auch der Mutigste. Sein Blick traf Kinyuas, und er bedeutete ihm, tief hinein ins Dorf der Massai zu gehen.
Kinyua schüttelte den Kopf. So hatten sie das nicht geplant. Sie hatten es sich genau überlegt, und Ngengi war damit einverstanden gewesen. Um den Erfolg ihrer Mission nicht zu gefährden, wollten sie in eine Hütte am Rand des Dorfs eindringen, in denen die niedrig gestellten Familien untergebracht waren.
Chege aber steuerte jetzt eine große Hütte in der Dorfmitte an.
Nein, das war so nicht geplant gewesen.
Ngengi und Chege schlüpften in die Hütte. Sie bewegten sich so leise, dass Kinyua einen kurzen Moment schon glaubte, sie würden damit davonkommen. Die Stille lastete schwer auf ihnen. Die Geräusche der Nacht waren unerträglich laut. Kinyuas Muskeln spannten sich an. Er fürchtete sich nicht. Sie waren allesamt mutige Krieger, die keinen Kampf scheuten.
Aber einem der höherrangigen Männer des Massaistamms eine Frau oder gar eine Tochter zu rauben …
So viel Mut hatte er nicht.
Im Innern der Hütte erklang ein Poltern, dann ein Schrei. Eine zweite Stimme zeterte, und dann brach die Hölle los im Dorf der Massai.
Männer stürmten von der Viehweide zurück zum Dorf. Sie stürzten sich auf Kinyua und seine Freunde und schwangen ihre Waffen. Kinyua wehrte einen ersten Angriff mit seinem
Ndome
ab und versuchte gleichzeitig, den Massai mit seinem Speer anzugreifen. Doch sofort tauchten die nächsten drei Krieger vor ihm auf und griffen an.
«Ngengi!», schrie Kinyua in höchster Not. Seine Hoffnung, sich beim ersten Kampf heldenhaft hervorzutun, war dahin. Er sah Chege und Ngengi aus der Hütte huschen, zwischen sich ein Mädchen, das kaum älter als zwölf sein mochte. Aber es lief zwischen den beiden Männern, als gehörte es zu ihnen.
Als sei das alles so geplant gewesen.
Ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, musste er schon den nächsten Angriff abwehren. Die anderen Jäger waren bereits in die Defensive gedrängt. Ngengi und Chege verschwanden mit dem Mädchen in der Dunkelheit.
«Zurück!», rief Kinyua, weil seine Gefährten offenbar gar nicht daran dachten, sich zurückzuziehen. «Schnell, zurück!»
Mokabi wehrte den Angriff von zwei Massai ab. Dann machte er auf der Stelle kehrt und rannte. Kinyua hätte dem Dicken gar nicht zugetraut, dass er so schnell sein konnte. Aber er flitzte hinter Ngengi her, als ginge es um sein Leben.
Kinyua verließ als Letzter das Massaidorf. Die Krieger schrien und tobten, doch keiner setzte ihnen nach. Offenbar fürchteten sie, dass von der anderen Seite der Löwe käme, wenn sie das Dorf im Stich ließen. Oder vielleicht fürchteten sie auch einen Hinterhalt, dass nach diesem kleinen Stoßtrupp eine viel größere Gruppe aus einer anderen Richtung kam und das Vieh stahl, wenn sie ihnen nachsetzten. Und das war weit schlimmer als der Verlust einer Frau.
Frauen konnte man rauben, Töchter zeugen. Das Vieh aber war den Massai von Ngai geschenkt worden. Es gehörte allein ihnen, und deshalb war es ihr gutes Recht, die Rinder und Ziegen der anderen Volksstämme zu stehlen.
Kinyua schaute nicht zurück. Er trabte neben Karimi her. Sie bildeten die Nachhut.
Irgendwo weiter vorn hörte er das Mädchen lachen.
Kinyua verstummte.
«Ganz so machen wir es nicht, wenn wir eine Frau wollen.» Bwana Winston grinste. «Wir klauen sie nicht einem anderen Mann.»
«Ngengi hat erst später zugegeben, dass er sie von Anfang an wollte. Sie und kein anderes Mädchen. Ihr Vater kam zwei Tage später in unser Dorf und forderte von Ngengi den Brautpreis.»
«Hat er ihn bekommen?»
«Natürlich. Ein Kikuyu zahlt immer seine Schuld.»
Es hatte Ngengi zu einem armen Mann gemacht. Fünfundzwanzig Rinder hatte ihn das schöne Mädchen gekostet. Die schönste Massai von allen, sein ganzer Stolz. Was hatte es Ngengi eingebracht, außer dass er danach kaum mehr hatte als Karimi? Seine andere Frau hatte sich nie an die Neue gewöhnt, und obwohl Ngengi inzwischen wieder etwas mehr Vieh hatte, war er immer noch
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