Am Haken - Ein maximalistischer Roman ueber das Leben die Liebe und den grossen Hecht
INTENSIVER AUGENBLICK DES GLÜCKS
Wir kommen am Digern vorbei, der so früh am Morgen noch unheimlicher wirkt. Ein Waldsee für die Toten. Der Dämon aus der Hölle spürt einen schwachen Hauch von vermoderten Knochen beim Vorbeigehen. Einen scharfen Geruch, der in der Nasenspitze beißt.
Wir gehen am Bassenget vorbei und ich meine das Geräusch einer Angelrute zu hören, die Köder und Leine übers Wasser wirft. Das ist sicher Maggie. Wäre Jerry nicht dabei, ich wäre zu ihr gegangen – wenn auch nur, um sie dort stehen zu sehen. Ihr Haar. Ihre Angelrute. Ihre kräftigen Arme …
Jerry hört sie nicht, er redet ununterbrochen.
Wir kommen an See Nummer vier vorbei und gelangen an den fünften See. Die Uhr zeigt Viertel nach sechs, als wir das Ufer des Niern erreichen.
Nach der gestrigen Lektion ist Jerry bereits Weltmeisterim Angeln. Ich lasse ihn machen. Vielleicht kann ich ihn ja sich müde angeln lassen – so wie man es mit Kindern macht, die zu viel Süßes gegessen haben – ihn einfach weitermachen lassen, bis er mit seinen Kräften am Ende ist?
Wir werfen und schaffen es, dass sich unsere Haken ineinander verhaken. Wir kommen überein, dass wir mindestens zwanzig Meter voneinander entfernt stehen müssen, um weitere Unfälle zu vermeiden. Ich schnappe mir den Rucksack und verschwinde das Ufer entlang.
Tröste mich mit dem Proviant.
Der dritten und vierten Scheibe Brot.
Versuche einen Wurf und lass mir die Sonne auf den Bauch scheinen.
Alles wird leichter.
Als wäre mein Schädel ein Vogel, der sanft mit seinen Flügeln schlägt. Der Kopf schwebt elegant über den Schultern – schwerelos.
Ich werfe aus, genieße die Sonne und habe das Gefühl, dass alles irgendwie perfekt ist.
Wir sind tief drinnen im Wald und noch dazu mit einem verzwickten Projekt beschäftigt.
Und trotz allem ist es schön.
Körper und Angel gehören zusammen. Hand, Spule, Leine und Schwimmer scheinen wie aus einem Guss – und arbeiten perfekt miteinander.
Der Wald, der See, der große Hecht – der sicher noch schläft und davon träumt, den Sportanglern in die Waden zu beißen – und ich, wir gehören zusammen.
Das ist ein intensiver Moment des Glücks.
Es gibt also doch noch Glück auf dieser Welt. Das hatte ich nach all der Aufregung vor den Sommerferien ganz vergessen.
Ich denke, dass meine nächste Angeltour wieder genau so werden soll – in aller Herrgottsfrühe, mit Proviant und Kaffee im Rucksack. Nur ich, die Stille, der Wald und die Angel.
Der Fang selbst ist nicht wichtig. Nur das Zusammengehören bedeutet etwas.
Die Uhr geht auf sieben zu.
Wir werfen aus und unsere Köder beschreiben einen schönen Bogen nach dem anderen. Ich grinse Jerry zu, er winkt zurück und ausnahmsweise hält er mal die Klappe – denn laut Walden, der Jerrys neue Bibel darstellt, sollst du so wenig Lärm wie möglich beim Angeln machen. Die Fische sind da irgendwie empfindlich.
Und wenn Walden das geschrieben hat, dann stimmt es.
Was mir nur recht ist. Ich kann gut mit der Stille umgehen. Aber als die Uhr die Acht erreicht, sehe ich, dass es mit Jerrys Geduld zu Ende ist. Schon ein Wunder, dass er überhaupt so lange ausgehalten hat.
Gleich wird er etwas über Walden, das Angeln und die Uhrzeit erzählen.
3. EIN SEUFZER EINER ALTEN MAUS
»Walden schreibt, dass die Möglichkeit, einen richtig guten Fisch zu fangen, nach acht Uhr beträchtlich sinkt«, sagt er und zeigt auf seine Uhr.
Damit ist es vorbei. Aber es waren zwei schöne Stunden. Selbst Dämonenmäuse in winzigen Löchern können zwei Gramm Glück erleben.
Ich frage nicht, wie er das Mittagessensproblem lösen will, da wir uns auf der Minusseite befinden, was den Fang betrifft. Das wird ihn auf der Stressskala nur noch weiter nach oben treiben.
Aber vielleicht denkt Jerry ja auch ans Mittagessen, ohne etwas davon zu sagen?
Oder denkt er an Selma? Oder an Maggie?
Sein Mund ist geschlossen wie ein Geschäft nach Ladenschluss.
Wir erleben noch weitere zwanzig Minuten Frieden und ich lasse mich wieder in dieses Glücksgefühl gleiten. Es gibt nur mich, den Wald und den großen Fisch. Mir fällt auf, dass ich mir gar keine Sorgen wegen der Mücken hätte machen müssen. Jede Menge Brennnesselblasen, aber nicht ein Mückenstich.
Wir machen uns auf den Weg zum Bassenget.
»Hör mal!«, sagt Jerry.
»Ich höre nichts«, erwidere ich gleichgültig.
Er macht mir ein Zeichen, dass ich still sein soll. Wir schleichen uns an die
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