Am Hang
– Ja, aber eine ausweichende und eher ohnmächtig stimmende. Ihr lieben Sätzchen alle, sagt sie, ihr könnt mich nicht fassen, ich lasse mich, sagt sie, seit längerem nicht mehr begreifen und darstellen, sorry. – Sie könnte recht haben, sagte ich, und hätte sie recht, so müßten wir eigentlich über sie schweigen. – Nur nicht so stürmisch, nur nicht so kleinlaut, antwortete Loos, wir haben noch andere Möglichkeiten, und zwar mindestens zwei: die Beschimpfung der Welt und die Beschreibung der Ohnmacht, in die uns ihre rücksichtslos komplexe Wesensart versetzt. Und drittens, fällt mir gerade ein, gibt es ja Sätze, die nicht den Ehrgeiz haben, die Weltverfassung zu ergründen, zum Glück kann man auch über Fußball reden, über Hunde und Todesursachen, man kann sich Geschichten erzählen, die man erlebt, gehört oder erfunden hat, kurzum, wir sind, bildlich gesprochen, nicht darauf angewiesen, die Dame, die uns die kalte Schulter zeigt, zu unserem Thema zu machen, wir haben anderen Stoff genug.
Nachdem das Essen aufgetragen war, schloß Loos wie schon am Abend zuvor für einen Moment die Augen und griff dann erst zu Gabel und Messer. Nach ein paar Bissen hielt er inne und sagte, es habe ihm oft leid getan, daß seine Frau, wenn er ein feines Fleischgericht gegessen habe, nie mit ihm habe mitgenießen können, da sie es abgelehnt habe, Fleisch von warmblütigen Tieren zu essen. Am Anfang, als sie sich kennengelernt hätten, kurz nach ihrer Konversion zum Vegetarismus, sei sie wie alle Bekehrten ein wenig übereifrig gewesen und habe sogar, zu seiner Bestürzung, erklärt, sie küsse prinzipiell keine fleischfressenden Männer. Gottlob sei die Liebe dann stärker gewesen als ihr asketischer Vorsatz, so stark sogar, daß sie, seine Frau, die zwar bei der pflanzlichen Kost geblieben sei, von Zeit zu Zeit ein Hühnchen für ihn gebraten habe, ein Schnitzel, Lammfleisch und so weiter, allerdings immer in der rührenden Angst, das von ihr Zubereitete könnte mißraten sein. Es sei aber nie mißraten gewesen, sondern im Gegenteil. Manchmal jetzt, wenn er sich zu essen anschicke, sehe er ihre grünblauen, ängstlich-erwartungsvollen Augen auf sich gerichtet, wie überhaupt ihre Augen es seien, die er immer als erstes sehe, wenn er sich ihre Erscheinung vergegenwärtige.
Zum Glück, sagte ich, habe seine Frau wenigstens beim Weintrinken mitgehalten und zum Beispiel den Merlot bianco, den wir tränken, mit ihm zusammen genießen können. – Loos hörte zu kauen auf, starrte mich an, schluckte und fragte, warum ich das wisse. – Weil er mir gestern auf meine Frage, ob er mir seinen Wein empfehlen könne, die merkwürdige Antwort gegeben habe: ›Wir haben ihn immer als stimmig empfunden‹. So eine Antwort vergesse man nicht, und ich hätte daraus jetzt einfach gefolgert, daß mit dem Wir seine Frau und er gemeint gewesen seien. – So sei es in der Tat, sagte Loos, er habe hier vor einem Jahr gelegentlich ein Glas mit seiner Frau getrunken. – Ich fragte, ob ich daraus schließen könne, daß er sie in den Rekonvaleszenzurlaub begleitet habe. – Auch dieser Schluß sei richtig, sagte er, nur wäre er froh, wenn er einstweilen nicht darüber reden müßte. Wie denn mein heutiger Tag gewesen sei? – Ich kann mich nur wiederholen, sagte ich, mein Tag war kurz und öde, es hat mir an Schwung gefehlt, an Klarheit im Kopf, die Arbeit ist liegengeblieben, und das Nichtstun hat mich verstimmt, mein Tag war also ein Untag, und Ihrer?
Meiner hat unfein begonnen, sonst kann ich nicht klagen. – Kater? Kopfschmerz? – Nicht die Spur, sagte Loos, aber nach dem Läuten des Weckers, das natürlich kein Läuten ist, sondern eine Abfolge von Piepstönen wie alles heutzutage, bin ich nochmals kurz eingenickt. Da hat mich ein lästiges Träumchen geplagt, ein LQS-Träumchen. – Loos kaute, ich fragte, ob das ein psychologischer Fachausdruck sei. – Jetzt noch nicht, sagte er, aber wahrscheinlich bald einmal. LQS bedeute Lohnwirksames Qualifikationssystem und sei unter dieser bombastischen Bezeichnung auf Geheiß der Wirtschaft und ihrer hündischen Vollstrecker auch in die Schulstuben eingedrungen. Zwecks Qualifizierung der Lehrperson schneie nämlich von Zeit zu Zeit ein Visitator herein, setze sich hinten in eine Bank, breite diverse Blätter und eine Checkliste vor sich aus und achte während des Unterrichts auf die Fachkompetenz und die Methodenkompetenz und die Sozialkompetenz der Lehrperson, wobei ihm zur
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