Am Hang
und hochgestimmt sehr viele Junge seien. Und was mich selbst betreffe, mich als Mittdreißiger, so könne ich mit Unglück ebenfalls nicht dienen: mir falle das Leben leicht, und dessen Kürze sei für mich ein Aufruf, das Leckere nicht zu verschmähen.
Besonders lecker, sagte Loos und zeigte auf die Speisekarte, sei das Kaninchenfilet, er empfehle es sehr. – Ist das ein Ablenkungsmanöver oder nehmen Sie mich nicht ernst? fragte ich. – Ich habe doch gesagt, ich sei in spielerischer Laune, erwiderte er, und außerdem bin ich der Meinung, daß wir bestellen sollten, bevor ich zum Gegenschlag aushole. – Ich kenne es, sagte ich. – Er fragte: Was? – Das Kaninchenfilet, es war unser Abschiedsessen draußen auf der Terrasse. – Ich verstehe nicht ganz, sagte Loos. – Sie haben vielleicht überhört, daß ich einmal mit einer Freundin hier war, die drüben im Kurhaus logierte und der ich hier, in diesem heiteren Rahmen, das Ende der Beziehung nahelegen wollte. Da haben wir beide ein filetto di coniglio gegessen. – Schön, sagte Loos, und warum war sie drüben? – Nervenprobleme, vegetative Labilität, sagte ich. – Loos schwieg eine Weile. Das bringt uns ja wieder zum Thema, sagte er dann, das Unglück hat viele Gesichter, und ein gestörtes Nervensystem ist eines davon, ein stilles, sympathisches, wenn auch für die Betroffenen schwer zu ertragendes. Verbreiteter ist allerdings ein anderes, das eher eine Maske ist, eine Ausdrucksform, die das Leiden unkenntlich macht, nämlich der hektische Frohsinn. Ihre muntere Jugend, Herr Clarin, weiß instinktiv, was Besinnung und Stille bedeuten würden: Absturz in den Rachen der Realität. Ob Sie es glauben oder nicht, ich war einmal dabei, am Straßenrand, an einer Street Parade, und was ich da gesehen habe, war ein Trauerzug, freilich ein dröhnender. – Die Lebenslust ist also ein Symptom der Trübsal, sagte ich, sind Sie bei Trost? – Bei Trost bin ich nicht, nur ist das kein Beleg für den Widersinn meiner Deutung. Und wäre ich auch ein Narr, so müßten Sie mir immerhin Sinn für das Närrische zubilligen, für Maskeraden und Tarnungen aller Art, für die Vermummungskünste der traurigen Seele. Mir scheint, daß Ihr empirischer Blick nicht unterscheidet zwischen Kleidung und Verkleidung – daher Ihr heftiger Protest. Ich gebe Ihnen gern und väterlich einen Satz mit auf den Lebensweg, den ich irgendwo aufgeschnappt habe und sinngemäß zitieren kann: Wenn du einen Riesen siehst, so frage dich zuerst, ob es sich nicht um den Schatten eines Zwerges handelt. – Schön, sagte ich, schön und beherzigenswert, Sie sollten sich daran halten und nicht den falschen Schluß daraus ziehen, daß jedes Sein nur Schein ist – beziehungsweise jede Lebenslust verkappte Trauer. Die Existenz von echten Riesen stellt das Zitat ja nicht in Frage. – Stimmt, sagte Loos, dann wollen wir jetzt bestellen, das heißt, die glücklichen Alten sind noch rasch abzuhaken, fast hätte ich sie vergessen. Für welche Altersgruppe gilt der statistische Befund genau? – Für Rentnerinnen und Rentner. – So so, für Rentnerinnen und Rentner, zugegeben, das ist eine umfängliche Gruppe, es freut mich, wenn sie sich wohler fühlt als in früherer Zeit, aber es wundert mich nicht, sie hat das Gröbste ja hinter sich, ist von vielen Zwängen befreit und besser gepolstert als früher. Von der Verblödung beträchtlicher Teile der Alten will ich nicht sprechen, obwohl sie ebenfalls zum Wohlbefinden beiträgt. Wie auch immer, das Ergebnis der Erhebung bestätigt meine Diagnose, ich meine nämlich, daß sich am Grad des Wohlbefindens das Mißvergnügen messen läßt, das ihm vorausging. Wenn sich die Pensionierten also weit besser fühlen als je, dann muß die Situation, der sie entronnen sind, so quälend sein wie nie, nicht wahr, dann können wir jetzt die Bestellung aufgeben, ich nehme das Kaninchenfilet.
Ich schloß mich an. Und da es mir sinnlos schien, noch weiteres zum Thema beizusteuern, kam das Gespräch ins Stocken. Er leitet jedes Wässerchen auf seine Mühle, dachte ich, und sammelt Belege für das Unglück der Welt, besessen wie jeder Sammler. – Es mag so scheinen, sagte er jetzt, als sei ich auf die schäbige Genugtuung des Rechtbehakens aus, und das hat damit zu tun, daß man meine zweite und flehende Stimme nicht hört, wenn ich rede. Sie nämlich sagt nach jedem meiner Sätze: Liebe Welt, bitte, strafe mich Lügen. – Und? fragte ich, gibt sie ab und zu Antwort, die Welt?
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