Am Hang
können. Worüber denken Sie nach? fragte Loos. – Ach, sagte ich, eigentlich über nichts, ich habe mich nur gefragt, warum man auf Automaten-Fotos häufig ein bißchen schwachsinnig, sogar fast kriminell aussieht und warum dies eher bei Männern als bei Frauen der Fall ist. – Könnte es sein, fragte Loos, ohne mich anzuschauen, daß Sie über anderes nachgedacht haben? – Ich schluckte leer und verneinte. – Die Gedanken sind frei, sagte er, im übrigen trifft Ihre Beobachtung zu, die fremde Frau jedenfalls hat auf den Fotos fast ganz so ausgesehen wie in natura, nämlich sehr angenehm, um nicht zu sagen bezaubernd. Aber der Reihe nach. Ich wollte gerade gehen und einen Abfallkorb suchen, da hat die Frau mich angesprochen und mich gefragt, ob sie die Fotos sehen dürfe. Ich weiß nicht, was mich perplexer machte: das eigentümliche Ansinnen oder die Ähnlichkeit ihrer Stimme mit der meiner Frau. Ich stotterte, die Fotos seien grauenhaft, sie seien so mißraten, daß es mir peinlich wäre, sie zu zeigen. Die Fremde lächelte. Ihr Kopfputz, ein orangefarbenes Tuch, lose umgebunden, warmes indisches Orange, erinnerte mich ebenfalls an meine Frau und an die schlimme Zeit, in der man ihr das Haar nahm. Die Fremde sagte jetzt, sie finde Mißratenes spannend. Auf mein Warum ging sie nicht ein, sie trat einen Schritt auf mich zu und griff, wieder lächelnd, sehr sehr behutsam nach dem Papier in meinen willenlosen Fingern. Setzen wir uns, sagte sie und zeigte auf die metallene Bank neben den Fotokabinen. Dort schaute sie die Fotos an und äußerte sich nicht. Nach einer Weile fragte sie: Darf ich eines davon haben? – Wieso denn? fragte ich. Sie sagte: Muß alles begründet sein? – Vielleicht nicht, sagte ich, nur, so entstellt verschenke ich mich ungern, oder sammeln Sie Fratzen? – Sie nestelte in ihrer Handtasche und entnahm ihr eine winzige Schere, und da ich einfach zu verdattert war, schritt ich nicht ein und ließ es geschehen, daß sie eins der vier Bildchen ausschnitt, säuberlich, voll kindlicher Hingebung. Und jetzt die Gegengabe, hat sie gesagt und eins von ihren Fotos ausgeschnitten. Sie hat meine freie, zur Faust verkrampfte Hand genommen, hat einen Finger nach dem andern gleichsam aufgeklappt und mir das Foto auf die Hand gelegt.
Loos schien bewegt. Er sagte, er müsse schnell auf sein Zimmer. Erst jetzt, als er wegging, bemerkte ich, daß er den leichten, ärmellosen Pullover, den er trug, falsch angezogen hatte: Der V-Ausschnitt war hinten, und hinten rechts, auf der Höhe des Schulterblatts, war ein schwarzer Trauerknopf angesteckt. Der Anblick belustigte mich nicht, ich fand ihn irgendwie verstörend. Loos blieb gut zehn Minuten weg und sah verändert aus, als er zurückkam. Er habe, sagte er, den Drang gehabt, sich zu rasieren, nun sei ihm wohler. Den Pullover trug er jetzt richtig, doch ohne Trauerknopf.
Ich habe mein Erlebnis wundersam genannt, was es auch war, sagte er, aber es hat mich nicht nur gehoben, sondern zugleich auch gebeugt. – Entschuldigen Sie, unterbrach ich ihn, Sie haben noch gar nicht zu Ende erzählt, wie ist es weitergegangen? – Es ist nicht weitergegangen, ich muß geflohen sein, ich fand mich wieder im Postauto nach Montagnola, wo ich aus der Betäubung aufgewacht bin, ohne mich daran erinnern zu können, wie ich zur Haltestelle gelangt war. Wüßte man es nicht besser, so könnte man fast meinen, die Fremde habe mich verhext, nicht wahr? – Mein Gott, Herr Loos, was heißt verhext? Bezirzt hat Sie die Frau, sind Sie denn blind, die hat sich Ihnen förmlich aufgedrängt, zumindest angetragen, und Sie, statt dankbar zuzugreifen, laufen weg, es ist wahrhaftig nicht zu fassen. – Ja, es ist schwer zu fassen, Herr Clarin, speziell für spontane Naturen und andere Allzeitbereite, und andererseits ist es leicht zu verstehn und eigentlich leicht zu erklären. Ich gehöre ja, seit mir das Schicksal meine Frau genommen hat, der untersten Kaste an, der Kaste der Unberührbaren. Es ist mir im Moment noch nicht ganz klar, wem ich mich anvertraue, ich kenne Sie kaum, Sie sind jung, und Sie sind anders, und Ihre Souveränität in Sachen Frauen erleichtert es Ihnen auch nicht gerade, mich zu verstehen, egal, egal, ich sage laut: Ich bin behindert!
Loos sagte das wirklich laut, und am Nebentisch wurde es leise. Ich sah, daß Loos’ Hände, die übrigens nichts Fleischiges und Prankenhaftes hatten, sondern in ihrer Feinheit seltsam kontrastierten mit seiner schweren Statur, ein
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