Am Hang
losgebunden wurden und nach den ersten paar Luftsprüngen ins Grübeln darüber geraten, wohin sie sich nun wenden könnten in der weiten, bunten, aber wegweiserlosen Landschaft. Versetzen Sie sich in die Lage einer Frau von 1950, die vor dem Kleiderschrank steht. Hier hängen zwei, drei Sachen für den Werktag sowie ein Sonntagskleid. Sie zaudert kaum, ihr Griff ist sicher. Die Frau von heute aber steht eine halbe Stunde lang vor ihrem übervollen Schrank, ein leichter Schwindel sucht sie heim, und sie empfindet jeden Griff als Mißgriff und kommt gewöhnlich zum Schluß, sie habe nichts anzuziehn. Gut. Über diese Art Not darf man lächeln. Nun hat die Frau aber Kinder, die zu erziehen sind. Nach welchen Normen? Mit welchen Methoden? Auf welche Ziele hin? Das Angebot ist breit und widersprüchlich und von beschränkter Gültigkeit. Kennen Sie Eltern, die nicht aufs tiefste verunsichert wären? Kennen Sie eine Mutter, die nicht das Gefühl hat, fast alles falsch zu machen oder, rückblickend, falsch gemacht zu haben? Als Zyniker könnte man sagen: Die Mütter, die Eltern empfinden sich zu Recht als Versager, denn schaut euch ihre Früchte an: lauter Verhaltensgestörte, lauter labile, schwankende, orientierungslose Daseinszapper und -surfer. Aber das wäre, wie gesagt, zynisch und etwa so, wie wenn man dem Kapitän eines Schiffs, dessen Navigationsgerät infolge höherer Gewalt ausfiel, die Schuld dafür geben würde, daß er die Passagiere nicht auf festen Boden brachte. Kurzum, in der vergangenen Epoche hat ein verbindlicher Kanon von Werten, eine enge und strenge Moral uns gemodelt und häufig verkrümmt und stets überfordert. In der heutigen Zeit, in der die Rangordnung der Werte aufgehoben ist und diese selbst insofern privatisiert worden sind, als es dem einzelnen freisteht, von welchen er sich leiten lassen möchte, macht sich Ratlosigkeit breit: nichts schwieriger, nichts überfordernder, als ohne Beistand suchen und wählen zu müssen. Ich will die alte und die neue Art der Überforderung nicht näher qualifizieren und sage nur, damit Sie mich nicht in die falsche Ecke stellen: Ich halte nichts für trauriger und für gefährlicher als das Brüllen der Freigelassenen nach Orientierung und Halt – womöglich nach der Peitsche.
Es fielen Tropfen, Loos schien es nicht zu merken. Er machte zwar eine Pause, aber ich sah ihm an, daß er noch nicht zu Ende war. Nun ja, sagte ich. Nun ja, sagte er, wenn wir zur neuen und erwähnten Form der Überforderung jetzt noch die neuere addieren, die durch die stürmische Entwicklung in Wissenschaft und Technik bedingte, die darin besteht, daß wir das Tempo mit hängender Zunge und ohne Erfolg zu halten versuchen und daß wir bleich konstatieren müssen, wie das, was wir heute an Wissen und Meinung erworben haben, morgen schon Schnee von gestern ist – dann, glaube ich, erweist sich meine Behauptung, das Ausmaß an seelischem Unglück sei ein noch nie dagewesenes, als nicht allzu gewagt. Wie soll das weitergehen? Darf man auf eine Revolution der Schnecken und der zu Schnecken Gemachten hoffen? Was meinen Sie? – Ich meine, daß es regnet, sagte ich, und daß wir vielleicht umziehn sollten. – Tatsächlich, sagte er, es regnet.
Nachdem wir an unserem reservierten Tisch im verglasten Anbau Platz genommen und unseren halben Weißen bestellt und bekommen hatten, stießen wir an. Auf die Revolution der Schnecken! sagte ich. – Auf baldiges Krachen im Gebälk! sagte er und schenkte mir sein so seltenes, halb schalkhaftes, halb wehmütiges Lächeln. – Da er nach Widerspruch lechze, sagte ich dann, wolle ich ihn mit zwei empirischen Befunden konfrontieren, die seine Diagnose in Zweifel ziehen müßten. Der eine sei statistisch erhärtet, der andere aus eigener Anschauung gewonnen. So zeige eine neue und repräsentative Erhebung, die das psychische, physische und materielle Befinden der älteren Generation zum Gegenstand habe, daß sich diese nach eigener Einschätzung bedeutend wohler fühle als die gleiche Altersgruppe, die vor zehn und zwanzig Jahren befragt worden sei. Die Jungen wiederum, die zirka Fünfzehn- bis Dreißigjährigen, legten nach meiner Beobachtung ein durchaus fideles, genußfreudiges, dem Spaß und dem Vergnügen zugeneigtes Verhalten an den Tag – und keineswegs das depressive, triste, das zu erwarten wäre, wenn seine Schilderung der Lage stimmen würde. Man müsse nur einmal als Zaungast einer Street Parade beiwohnen, dann sehe man, wie aufgedreht
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