Am Hang
jemanden, der nicht gezeichnet sei von der Angst zu versagen. Fast alle hätten, krud und bildlich gesprochen, die Hosen voll, und so wie die wirkliche Inkontinenz der Scham und dem Schweigen anheimfalle, so blieben die Versagensängste unterm Deckel. Man habe es also, in welchem Umfeld man sich auch bewege, mit lauter heimlichen Würstchen zu tun, die einen Großteil ihrer Energie dazu benötigten, ihr Stigma zu drapieren. Ein massenhaftes Coming-out sei nicht in Sicht, infolgedessen auch keine Revolution der Überforderten. In Sicht hingegen, ja schon Faktum, sei die Verbreitung seelischen Unglücks, die epidemische, in diesem Ausmaß noch nie dagewesene. Und so massiv der Einsatz chemischer Mittel auch sei, so bunt die Palette an anderen Heilmethoden oder Heilsversprechen: die Wurzel bleibe unbehandelt, das Elend wüte weiter.
Dulden Sie Einwände? fragte ich Loos. – Mag sein, daß ich ein Rechthaber bin, antwortete er, und trotzdem lechze ich nach Widerspruch. – Gut, sagte ich, ich habe Ihnen erzählt, daß ich den Vorsatz hatte, mich heute meiner scheidungsrechtlichen Sache zu widmen, daß ich dann aber, statt zeitig aufzustehen, liegen blieb und in den Mittagsstunden, gerädert wie ich war, nichts mehr zustande brachte. Und dieser Antriebsmangel, diese Willensschwäche eher, erfüllte mich mit Unmut, ja mit Selbstverachtung. So – das war der Anlaß Ihrer Abhandlung, das war die Mücke, aus der Sie einen Elefanten machten. Die These von der Überforderungsgesellschaft mag zwar ihr Richtiges haben und ist ja auch nicht nagelneu, nur hat sie nichts mit meinem Fall zu tun. Das ist das eine, und nun zur These selbst: Sie haben gestern doch erklärt, Sie seien kein Geschichtspessimist. Vielmehr, so sagten Sie, bleibe die Summe der Übel in etwa konstant, da jedes alte von einem andersartigen abgelöst werde. Ich stimme dem bei, ich gebe auch zu, daß das Gefühl, überfordert zu sein, eine Quelle des Unglücks sein kann, aber keineswegs eine neue. Überforderte gab es schon immer, jede Zeit bringt ihre Würstchen hervor und jede Gesellschaft ihr seelisches Elend … – Und weil das immer so war, fiel Loos mir ins Wort, soll man die Klappe halten, nicht wahr, vor allem dann, wenn man zur Problematik nichts Nagelneues beizusteuern hat. – Durchaus nicht, sagte ich, darf ich noch ausreden? – Entschuldigung, sagte er. – Ich möchte Sie an eine Zeit erinnern, fuhr ich fort, die ich, im Unterschied zu Ihnen, nur vom Hörensagen kenne, und zwar an die offenbar muffige Zeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Wie engmaschig war das Moralgeflecht damals, wie starr das System der Werte, wie vorwurfsvoll das Auge Gottes. Soziale Kontrolle und Repression allenthalben – und eine Pädagogik, die ohrfeigend nur das Beste wollte: die Austreibung des Selbstwertgefühls, das als Vorwitz und Frechheit galt, die Abrichtung der Menschen zwar nicht zu Versagern – die leisten ja nichts –, wohl aber zu Wesen, die sich vor dem Versagen fürchten und darum alles tun, was ihnen abverlangt wird. Ich frage Sie als Zeugen jener Zeit: Stimmt meine Einschätzung? – Sie könnte von mir sein, antwortete Loos. – Es war die reine Überforderungsgesellschaft, sagte ich, dann aber kam der frische Wind, die Gängelbänder wurden gekappt, die Haare länger, die Röcke kürzer, Atem, Gang und Rede freier. Die Relativierung der Moral entlastete das Individuum, gelockerte und erweiterte Wertvorstellungen ermöglichten neue Lebensformen, kurzum, der Deregulierungsprozeß im weltanschaulichen Bereich schafft so viel Freiraum und Spielraum wie nie, und doch sind Sie der Ansicht, der heutige Mensch sei überforderter und seelisch bedrückter als je – nur deshalb, weil er das Tempo der Veränderungen nicht verkrafte.
Ich könnte nun sagen – so Loos nach einer längeren Pause, während der seine Kiefer mahlten –, daß es das Vorrecht der Alternden sei, die neue Zeit mit ihren neuen Übeln als weit verfehlter zu empfinden als die entschwundene. Ich könnte weiter sagen, es stehe im Ermessen jedes einzelnen, die Übel zu bewerten, wie er wolle, da ihre Größe nicht mit dem Metermaß zu eruieren sei. Ich sage beides nicht, obwohl wir dann einig wären. Aber einig sind wir uns nur in der Beurteilung einer miefigen Zeit und darin, daß wir ihren Untergang begrüßen. Über das hingegen, was folgte, denken Sie frohgemuter als ich. Sie fragen nicht nach dem Preis. Sie reden nicht von der vertrackten Lage derer, die von der Leine
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