Am Hang
kompetenten Beurteilung dieser drei Kompetenzen nicht weniger als neununddreißig Beurteilungskriterien zur Verfügung stünden. Damit er wisse, was beispielsweise zur Sozialkompetenz gehöre, seien auf der Checkliste elf relevante Punkte aufgeführt, unter anderem Gestik und Mimik der lohnwirksam zu qualifizierenden Lehrkraft, ferner, was immer das heißen möge, ihre Vorbildwirkung, und zwei weitere Punkte seien Durchhaltevermögen und Humor, beides lohnwirksame Sozialkompetenzen, um die man als Betroffener dieser Veranstaltung allerdings öfters vergeblich ringe. Kurzum, so Loos weiter, bevor er wieder zu Messer und Gabel griff: Wenn das Lohnwirksame Qualifikationssystem schon als Wortschöpfung ein Alptraum sei, wie sehr dann erst das mit ihr Gemeinte und wie entschiedener noch der morgendliche Traum davon. – Was haben Sie denn geträumt? – Das Übliche halt, ich kam zu spät und ohne jede Vorbereitung in die Klasse, was beides in Wirklichkeit nie geschieht. Die Schüler blieben stumm, kauten Kaugummi, verschickten und empfingen SMS-Botschaften, der Visitator machte Kreuzchen, nahm mich nach Schluß der Lektion beiseite und sagte mir ins Ohr, meine Nasolabialfalte sei zu ausgeprägt, das gebe etwas Abzug, worauf ich erwacht bin. Leider hat mich die Nasolabialfalte, die im Volksmund Kummerfalte heißt, den ganzen Tag lang verfolgt, und in Lugano, beim Spazieren, habe ich alle Gesichter wie unter Zwang darauf hin abgesucht, aber sonst, wie gesagt, war mein Tag durchaus erträglich.
Gestern, auf unserem Nachtgang nach Agra, sagte ich, habe er über das Thema Schule nicht reden mögen und lediglich von Trauerspiel gesprochen. Ob er damit das eben geschilderte Qualifikationssystem gemeint habe. – Am Rand auch dieses, sagte Loos, denn es sei Teil der Barbarei, die in den Schulhäusern wüte. Seit sich die sogenannten Bildungs-Politiker darauf geeinigt hätten, die Schule müsse frontorientiert werden – ein Ausdruck übrigens, der alles sage über die Geisteshaltung dieser Leute –, seither hallten die Schulhäuser wider vom Hecheln und Keuchen der Schüler und Lehrer. Aber solange noch ein Stücklein Kaninchenfilet und ein paar Bohnen auf seinem Teller lägen, verbiete sich jedes weitere Wort in dieser Angelegenheit, denn schon das LQS habe seine Eßlust gedrosselt. Während des Essens sei grundsätzlich zu verzichten auf unerquicklichen Gesprächsstoff, dies habe ihn seine Gattin gelehrt, und daran hätten sie sich in der Regel auch gehalten, was ihn allerdings zu einer gewissen Einsilbigkeit verurteilt habe, vor allem dann natürlich, wenn der Mahlzeit die Lektüre der Zeitung vorangegangen sei. Er sei ja, nebenbei erwähnt, ein süchtiger Zeitungsleser, aber während die Befriedigung einer Sucht normalerweise Lust bereite, bewirke sie bei ihm vorwiegend Ekel, ob das nicht paradox sei? – Nur auf den ersten Blick, sagte ich, denn es gibt Menschen, die sich nicht ungern ekeln und förmlich scharf sind auf alles Unerfreuliche. – Sie meinen mich, sagte Loos, ich habe mich gegen Ihren Verdacht schon mehrmals zur Wehr setzen müssen, und trotzdem, auf einer allgemeineren Ebene haben Sie recht: Ohne ein Quentchen Kotlust müßte sich jeder halbwegs empfindsame Mensch nach dem Lesen der Zeitung die Hände waschen, aber wir sind ja noch immer am Essen, verzeihen Sie, und mein heutiger Tag war wirklich arm an Mißvergnügen, sofern man absieht vom erwähnten Traum und vielleicht noch davon, daß ich in diversen Geschäften Luganos erfolglos nach etwas gesucht habe, was kaum noch hergestellt zu werden scheint, weil sich die Textilindustrie immer weniger um die Bedürfnisse und Gewohnheiten der älteren Menschen schert. Fünfzig Jahre lang habe ich Unterhosen mit Öffnung beziehungsweise Eingriff getragen – Öffnung heißt es in der Schweiz und Eingriff in Deutschland –, aber diese Hosen mit Öffnung oder Eingriff sind mehr und mehr vom Markt verschwunden. Meine Frau, fällt mir gerade ein, hat einmal ähnliches erlebt. Eine Zeitlang waren BHs mit Metallbügeln oder -drähten so in Mode, daß sie die größte Mühe hatte, noch irgendwo normale aufzutreiben. Einen Metallbügel-BH konnte sie einfach nicht tragen, weil er sie an die schrecklichste Begebenheit in ihrem Leben erinnert hätte, doch das gehört jetzt nicht hierher, ich wollte sagen, daß die normalen Unterhosen systematisch verdrängt worden sind von unzweckmäßigen Slips, die keinen Eingriff mehr aufweisen und sich von den Damenslips kaum noch
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