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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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abheben, so daß in Sachen männlicher Unterwäsche von einer schleichenden Feminisierung und also Abschaffung der Differenz gesprochen werden muß. – Ich bitte Sie, Herr Loos, es gibt doch auch noch Boxer-Shorts, und die sind frei von jedem femininen Touch! – Auch ausprobiert, sagte Loos, sie sind mir zu geräumig, in ihnen kommt keine Geborgenheit auf, aber eben, die Welt ist aus den Fugen, und vieles sucht man vergeblich in ihr.
    Loos pausierte und wirkte erbittert. Nicht das leiseste mimische Zeichen verriet, daß er seine Klage selbst lachhaft fand. Entweder war er ein Verstellungskünstler oder ich hatte es eben doch mit einem Gestörten zu tun. Trotz meines Befremdens hob ich mein Glas und sagte tröstend: Auf den Eingriff! – Jetzt lächelte er, griff seinerseits zum Glas und stieß mit mir an. Dann trank er in einem Zug aus. Im Grunde bin ich aufgeräumt, sagte er, denn ich habe in Lugano auch etwas Schönes, etwas fast Wundersames erlebt, soll ich es Ihnen erzählen, oder würden Sie es begrüßen, wenn ich ein wenig stiller wäre? – Ich fragte zurück, ob er sich denn nicht vorstellen könne, wie neugierig ich darauf sei, für einmal nichts Verneinendes aus seinem Mund zu hören. – Anklagen ist mein Amt und meine Sendung, sagte Loos. – Pathetischer Spinner, dachte ich, und Loos sagte: Schiller. – Und dann erzählte er – der Kellner hatte mittlerweile abgeräumt –, er habe am Bahnhofskiosk von Lugano eine Zeitung gekauft, die Dame habe ihn freundlich bedient, wie es das Schild hinter der Scheibe mit dem Aufdruck Freundlichkeitsgarantie ja auch versprochen habe. Er sei dann auf dem Bahnhofsvorplatz an zwei Automaten vorübergekommen, Paßfoto-Automaten, und habe sofort den Wunsch gehabt, sich wieder einmal auf einem Foto zu sehn. Die eine Kabine sei besetzt gewesen, der Vorhang zugezogen, er habe sich in die andere gesetzt, die Münzen eingeworfen und sich mit aufgerissenen Augen gefaßt gemacht auf den Blitz, der ihn dann trotzdem erschreckt habe. Die Person nebenan sei fast gleichzeitig mit ihm aus der Kabine getreten, eine aparte Frau um die Vierzig, die ihm nicht einfach zugenickt habe, so wie er ihr, sondern zugelächelt, sehr zugelächelt, er sei verlegen gewesen, er habe geschwitzt. Während des Wartens auf die Entwicklung der Fotos hätten sie noch einige Male Augenkontakt gehabt, der Blick der Frau sei warm und forschend gewesen, der seinige wohl eher scheu, er habe jedesmal als erster weggeschaut. Gesprochen worden sei nicht, ihm habe nichts einfallen wollen, denn er sei nie ein Mann von Welt gewesen. In puncto Spontaneität sei er ein Dilettant: so habe seine Ehefrau es einmal formuliert, wörtlich, doch voller Nachsicht. Als das Papier mit den vier Paßfotos endlich in den Ausgabeschacht gerutscht sei, habe er sich erleichtert gefühlt und es sofort herausgenommen, es sei noch warm und etwas feucht gewesen. Wie vor den Kopf geschlagen habe er die Fotos betrachtet und einfach nicht wahrhaben wollen, daß dieses Bild eines halbdebilen und steckbrieflich gesuchten Verbrechers das Abbild seiner selbst sei. Zwar sehe er sein Gesicht, so wie es ihm der Spiegel zeige, als schattige Herbstlandschaft, was aber nicht bedeute, daß er es untragbar finde. Das Gesicht auf dem Foto hingegen sei eine Zumutung gewesen, und seine Bestürzung habe den Gipfel erreicht, als die Frau, die ihn offenbar beobachtet habe und inzwischen auch im Besitz ihrer Fotos gewesen sei, ihn angesprochen habe.
    Loos drückte seine Zigarette aus und wischte mit dem Taschentuch umständlich-sorgsam den Schweiß von Stirn und Nacken ab. Er trank. Er trank zügig wie am Abend zuvor. Er sah nicht aus wie ein Verbrecher, es ist mir wirklich schleierhaft, warum mich, als er das Wort aussprach, der schreckliche Gedanke streifte, daß Loos seine Frau vielleicht umgebracht hatte. Kaum zeitversetzt mit dem Gedanken war mir auch schon sein Aberwitz bewußt, und zur Rechtfertigung blieb mir nichts übrig, als meinen Sekundenverdacht als Zeichen dafür zu nehmen, daß mir mein Gegenüber noch immer völlig fremd und nicht geheuer war. Wohl neige ich dazu, grundsätzlich allen alles zuzutrauen, denn wer Gerichtserfahrung hat, kann gar nicht anders. Und trotzdem schämte ich mich jetzt für meinen flüchtigen Verdacht Loos gegenüber, der erstens nicht so wirkte, als sei er auf Hafturlaub, und zweitens derart liebevoll von seiner Frau gesprochen hatte, von seiner harmonischen Ehe mit ihr, daß man fast neidisch hätte werden

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