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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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Naturtrieb, so wenig anstrengend wie die Liebe selbst, und solange sie, die Liebe, bestehe, könne ich unbesorgt sein. Es scheint also eine Treue zu geben, die weder einem Willensakt entspringt, wie ich vorhin behauptet habe, noch einem unbewußten Machtwort, wie Sie behauptet haben. Und diese natürliche Treue habe ich damals als beruhigend empfunden, zu Unrecht, sie müßte uns in Angst versetzen.
    Warum denn das? fragte ich. – Wie auch immer, fuhr Loos fort, es gab diese englische Freundin, sie starb im Juni des vorletzten Jahres, ihr Ende war grauenhaft und hätte auch das Ende meiner Frau sein können. Die beiden spazierten zusammen im Hyde Park, als unheimlich schnell ein Gewitter aufzog. Sie rannten auf eine Baumgruppe zu, um Schutz vor dem Regen zu suchen, wobei meine Frau eine Sandalette verlor. Sie ging ein paar Schritte zurück, bückte sich nach ihr und stellte fest, daß ein Riemchen gerissen war. Ihre Freundin hatte die Baumgruppe inzwischen erreicht, und während sie meiner Frau aus zirka vierzig Metern Entfernung zuwinkte, als wolle sie sie zur Eile antreiben, traf sie ein Blitz. Sie starb auf der Stelle und vor den Augen meiner Frau, die selber unverletzt blieb, äußerlich, aber zur Abklärung ins Krankenhaus gefahren werden mußte, da ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten. Sie rief mich am gleichen Abend noch an, ich verstand sie schwer, sie sprach, als würge sie jemand. Anderntags flog ich nach London und verbrachte drei Tage an ihrem Bett. Einen medizinischen Befund gab es nicht, man sprach von einer vorübergehenden, durch Schock verursachten Lähmung. Am zweiten Tag konnte sie weinen, sie weinte lange, zuerst krampfartig, dann immer gelöster, und am Morgen des dritten Tages, als ich in ihr Zimmer trat, saß sie auf einem Stuhl, stand auf und kam mir entgegen. Vor der Entlassung teilte ein Arzt uns schier Unglaubliches mit. Der Tod der Freundin war, wie sich ergeben hatte, durch die Metallbügel in ihrem BH verursacht worden, das Metall fungierte als tödlicher Leiter. Es handle sich seines Wissens, so der Arzt, um den zweiten auf diese Art verursachten und ihm bekannt gewordenen Todesfall. Auf meine Frage, was meiner Frau geschehen wäre, wenn sie im Augenblick des Einschlags dicht neben der Freundin gestanden hätte, sagte der Arzt, sie hätte kaum überlebt. Während der Taxifahrt zum Hotel hielt ich die Hand meiner abwesend wirkenden Frau. Was ist ein Leben noch wert, sagte sie plötzlich, das sich dem gerissenen Riemchen einer Sandalette verdankt. – Mehr als vorher vielleicht, sagte ich, verzichtete aber auf eine Begründung, da ich spürte, wie sie wieder in sich versank. Ja, so war das, sagte Loos, nur weiß ich jetzt leider nicht mehr, was mich dazu veranlaßt hat, von diesem Geschehnis zu reden.
    Es sei, sagte ich, um seinen Zweifel gegangen, ob diese Freundin überhaupt existiere beziehungsweise um die Treue seiner Frau. Und dabei habe er wie nebenbei auch angedeutet, daß ihre Art von Treue ihm eigentlich hätte Angst machen müssen. Wie er das gemeint habe, sei mir allerdings unklar geblieben, es interessiere mich aber. – Loos sagte nach einigem Nachdenken, das Problem der natürlichen Treue, wie seine Frau sie verstanden habe – nämlich als etwas zwingend zur Liebe Gehörendes und sie, solange sie dauere, Begleitendes –, das Problem dieser Treue bestehe darin, daß sie in Wahrheit keine sei, auf jeden Fall nur eine virtuelle. Es sei wie mit dem Mut. Wer sich nie in Gefahr begebe, dessen Mut bleibe ungeprüft und unbewährt und also unverwirklicht. So auch die Treue, die, um real und wertvoll zu sein, der Versuchung bedürfe, oder noch besser: der vollzogenen Treulosigkeit. Ja, der im strengsten Sinn treue Mensch sei der untreu gewesene, der dem betroffenen Partner die Treue bewahre. Was allerdings, wie ich als Scheidungsanwalt ja wissen müsse, ebenso selten sei wie auf der anderen Seite das große, verzeihende Herz.
    Ich fragte Loos, da er kurz innehielt und einen Schluck trank: Hätten Sie selbst es im Ernstfall gehabt? – Was? fragte er. – Das große Herz, sagte ich. – Sie verstehen wohl gar nichts, ich hätte, rein hypothetisch gesprochen, mein Herz gar nicht brauchen können. Wenn eine Frau mir sagt, sie sei mir treu, solange sie mich liebe, so müßte ich eine Untreue wohl oder übel als Zeichen erloschener Liebe deuten, und diese pfeift auf ein verzeihendes Herz, verstehen Sie? – Durchaus, sagte ich, und ich verstehe jetzt auch, warum die natürliche

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