Am Helllichten Tag
damit hatte.
Also kleidete sich Nathalie so, dass ihre weiblichen Formen nicht auffielen, und tat, als stünde sie noch auf Zoobesuche oder eine Partie »Mensch ärgere dich nicht«.
War sie im Badezimmer, traute sie sich nicht, sich einzuschließen, zog sich jedoch in Windeseile an, wenn sie den Vater die Treppe heraufkommen hörte. Er kam zwar nicht absichtlich ins Bad, wenn sie gerade duschte, fand aber, sie solle sich nicht so anstellen, wenn er sich mal kurz die Hände waschen oder rasieren wollte.
Abends vor dem Fernseher zog er sie an sich, genau wie früher. Und obwohl ihr das unangenehm war, protestierte sie nie. Er erklärte ihr Zusammenhänge in den Nachrichten und übersetzte die Gags aus englischsprachigen Sitcoms, dabei konnte Nathalie damals schon ziemlich gut Englisch. Ein einziges Mal beging sie den Fehler, ihn zu korrigieren, und zog sich damit seinen Zorn zu. Er geriet so außer sich, dass er ihr eine Ohrfeige gab, die erste von vielen.
Nathalie wurde klar, dass nicht nur ihre körperliche Entwicklung den Vater irritierte. Er tat sich generell schwer damit, wenn etwas sich seiner Kontrolle entzog. Der Tod seiner Frau und seines Sohns, die finanziellen Einbußen und zwei heranwachsende Töchter, die ihn mit jedem Jahr weniger brauchten – er hatte wohl das Gefühl, alles entgleite ihm.
Und damit, dass Nathalie, sein ganzer Stolz, erwachsen wurde, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, kam er schon gar nicht zurecht.
Niemand merkte etwas, weder die Klassenkameraden noch die Lehrer. Die Freundinnen ihres Vaters ahnten es bestimmt, aber keine von ihnen kam ihr zu Hilfe, und wenn die Beziehung vor bei war, sah Nathalie sie nie wieder. Auch den Nachbarn dürften die lautstarken Zornausbrüche ihres Vaters nicht verborgen geblieben sein, doch keiner sprach sie je darauf an. Cécile studierte inzwischen in Amsterdam und rief nur alle paar Monate einmal an. Aber da sie weit weg wohnte und ohnehin nichts für sie tun konnte, antwortete Nathalie nur ausweichend auf ihre Fragen.
Wenn der Vater sie schlug, achtete er perfiderweise darauf, dass die Spuren nicht auffielen. Die blauen Flecken am Körper konnte Nathalie mühelos unter der Kleidung verbergen, die seelischen Wunden waren ohnehin unsichtbar.
Im Nachhinein versteht sie selbst nicht, warum sie sich nie jemandem anvertraut hat. Wahrscheinlich aus Scham. Oder weil ihr Vater sich jedes Mal, wenn er sie geschlagen hatte, wortreich dafür entschuldigte und danach eine gute Woche besonders nett und liebevoll war. In diesen Phasen war die Welt wieder in Ordnung, und trotz allem liebte Nathalie ihren Vater, zumal sie ja nur ihn hatte. Sie gab sich alle Mühe, nichts zu tun, was ihn aufregte und dazu brachte, seine andere Seite zu zeigen. Aber es nützte wenig, er schlug immer wieder zu.
7
Julia wohnt in der Koninginnelaan, in einer hellen, geräumigen Eigentumswohnung am Ende einer Reihe moderner Häuser mit breiten Glasfronten. Von hier aus hat sie es nicht weit in die Stadt, und zur Arbeit kann sie ohne Weiteres zu Fuß gehen, aber meist fährt sie mit dem Rad. Das Auto nimmt sie nur selten; eigentlich steht es die ganze Woche über ungenutzt vor dem Haus. Im Grunde braucht sie kein Auto, aber verkaufen will sie es dennoch nicht.
Das Auto ist so ziemlich der einzige Luxus, den Julia sich gönnt. Kneipenbesuche locken sie nicht, ins Kino geht sie allenfalls ein, zweimal im Jahr, sie raucht nicht, trinkt wenig Alkohol und hat keine kostspieligen Hobbys.
Dank ihrer Sparsamkeit konnte sie sich die relativ teure Wohnung unweit der Innenstadt kaufen. Sie hält sich gern zu Hause auf und genießt im Sommer den kleinen Garten hinter dem Haus, in dem ihr schwarzer Kater Morf den lieben langen Tag herumstromert und sein Revier bewacht.
Kaum hat sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, kommt er auch schon an und streicht ihr um die Beine.
»Na, mein Guter, hast du Hunger? Warte, gleich kriegst du was.«
Julia geht in die Küche, öffnet eine Dose Katzenfutter und gibt den Inhalt mit einem Löffel in Morfs Napf.
Sofort verliert der Kater jegliches Interesse an seinem Frauchen und macht sich über sein Futter her.
Julia ignoriert den Stapel Geschirr in der Spüle und geht nach oben ins Bad.
Während sie unter der lauwarmen Dusche steht und sich den Schweiß des Tages von der Haut spült, denkt sie an Taco.
Sie haben sich auf der Geburtstagsfeier von Sjoerds Frau, Melanie, kennengelernt. Normalerweise gibt sie sich bei neuen Bekanntschaften eher
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