Am Helllichten Tag
hinunter. Sie hatte sich noch im letzten Moment am Geländer festhalten können und sich dabei den Arm verrenkt und am Rauputz des Treppenaufgangs böse aufgeschürft.
Sosehr ihr die Mutter auch fehlte, war sie doch jedes Mal froh, wenn ihr Vater eine neue Freundin hatte. Kaum war wieder eine Frau in sein Leben getreten, war er wie verwandelt. Dann stand er singend am Herd und probierte neue Rezepte aus, brachte Nathalie Musik- CD s aus der Stadt mit, und sie un ternahmen zu dritt Ausflüge.
Wenn er verliebt und guter Stimmung war, durfte Nathalie abends ausgehen, auch wenn sie um Punkt zwölf zu Hause sein musste. Dann schimpfte ihr Vater nicht, wenn sie sich ein wenig schminkte, und sie konnte es sogar riskieren, ab und zu eine Klassenkameradin mit nach Hause zu bringen.
Wenn die Liebe nach Wochen oder Monaten erste Sprünge bekam, weil ihrem Vater die Hand ausgerutscht war, gab Nathalie sich alle Mühe, zu vermitteln. Aber es half nichts, und letztlich lief es immer gleich ab: Beim ersten Mal ließen sich die Frauen meist noch einmal umstimmen, weil Nathalies Vater sich reuevoll und zerknirscht gab. Aber wenn er dann zum zweiten Mal zugeschlagen hatte, packten sie unweigerlich ihre Sachen, und nach dem dritten Mal waren auch die Langmütigsten weg.
In der Zeit danach schlich Nathalie buchstäblich auf Zehenspitzen durchs Haus. Sie traute sich nicht, Radio zu hören, und überlegte sich jedes Wort zu ihrem Vater sehr genau. Dass sie eine Klassenkameradin einlud, war dann undenkbar und abends ausgehen kein Thema. Meist saß sie nach dem Unterricht in ihrem Zimmer, machte Hausaufgaben und vertrieb sich die Zeit mit Lesen. Um sechs kam ihr Vater von der Arbeit nach Hause. Beim gemeinsamen Abendessen war er wortkarg, stell te allenfalls eine Routinefrage, wie es denn so in der Schule gehe, und Nathalie gab die übliche Antwort: bestens, in der Schule laufe alles prima und ansonsten auch.
In der Schule lief es tatsächlich gut, jedenfalls in Zeiten relati ver Ruhe. Nathalie lernte eifrig, denn sie wollte wie ihre Schwes ter Cécile Abitur machen und danach möglichst schnell von zu Hause ausziehen.
Als sie Vincent kennenlernte, befand sie sich in einer Phase tiefer Verzweiflung und hatte das Gefühl, ihrer Situation nicht mehr gewachsen zu sein.
Sie sah ihn täglich mit einer Gruppe von Freunden in der Nähe ihrer Schule, dem Gymnasium, das er früher selbst besucht hatte. Dass er seine Intelligenz für kriminelle Zwecke einsetzte, wusste sie damals noch nicht. Sie sah nur den attraktiven jungen Mann, der unglaublich cool wirkte und mit undurchsichtigen Typen abhing, die sie einerseits misstrauisch machten, andererseits aber auch anzogen.
Eines Tages wartete sie an der Haltestelle auf den Bus, und weil es regnete, hatte sie sich ganz ans Ende der Bank gesetzt. Vincent trat in das Wartehäuschen und studierte die Tafel mit den Abfahrtszeiten. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, was ihm nicht entging. Er lächelte ihr zu und zeigte fragend auf die Bank. Als sie schüchtern nickte, setzte er sich neben sie, bis der Bus kam.
Am nächsten Tag stand er vor dem Schultor, lächelte sie wieder an, sagte aber nichts.
Erst eine Woche später kamen sie miteinander ins Gespräch.
Anfangs redeten sie nur über oberflächliche Dinge. Was sie dazu veranlasste, Vincent von ihrer Misere zu erzählen, weiß sie bis heute nicht. Vielleicht, weil sie wusste, dass bald etwas geschehen müsste, wenn sie nicht zugrunde gehen wollte. Dass sie irgendetwas tun musste, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.
Nachdem sie erst einmal angefangen hatte zu reden, gab es kein Halten mehr. Sie erzählte Vincent alles: dass sie sich vor Schmerzen oft tagelang kaum bewegen könne, dass im Flur zu Hause ein großer Fleck an der Wand sei, weil ihr Vater sie dort so hart ins Gesicht geschlagen habe, dass sie heftiges Nasenbluten bekam. Dass er sie die Treppe hinabgestoßen habe …
Vincent hörte zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen, und sein Gesicht verzerrte sich vor Empörung und Wut. »Zu dem Arsch gehst du nicht mehr zurück!«, sagte er. »Nie mehr.«
Nathalie hatte nicht protestiert. Noch am gleichen Nachmittag hatten sie zusammen ihre Sachen aus dem Haus geholt, und sie war zu Vincent gezogen.
Ihr Vater hatte bald herausgefunden, wo sie steckte. Mehrmals stand er vor der Haustür, klingelte Sturm und drohte, sie grün und blau zu schlagen.
Dann wurde er eines Abends in einer einsamen Seitenstraße überfallen und
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