Am Helllichten Tag
Urlaub in Italien. Hoffentlich nicht ausgerechnet jetzt, denn auf eine Begegnung mit Cécile ist sie wahrhaftig nicht erpicht.
Hinter Basel wird die Autobahn extrem voll. Nathalie kommt nur noch langsam vorwärts, und bei Zürich steht sie in einem kilometerlangen Stau, Stoßstange an Stoßstange mit vollgepack ten Autos. Es sind Urlauber, deren Kinder auf den Rücksitzen herumtoben.
Robbie, der eine Weile geschlafen hat, wacht auf und wird unleidlich.
Glücklicherweise löst sich der Stau bald wieder auf, und allmählich verändert sich die Landschaft: Die azurblauen Seen weichen mächtigen Bergmassiven mit schneebedeckten Gipfeln, kleine Wasserfälle strömen über das graue Gestein. Die Strecke steigt an.
Nach einer Weile kündigen Schilder den siebzehn Kilometer langen Gotthardtunnel an. Nathalie beschließt, eine kurze Pause einzulegen.
Leider ist sie nicht die Einzige mit dieser Idee. Weil der Parkplatz brechend voll ist, stellt sie das Auto in zweiter Reihe ab, zumal sie in wenigen Minuten wieder da sein will. Nur rasch aufs Klo, etwas zu essen kaufen und weiter.
Robbie tut die kleine Abwechslung gut. Interessiert guckt er sich um, egal ob sie nun vor den Toiletten ansteht oder im Laden belegte Brötchen kauft.
Wieder am Auto, protestiert er lauthals, als Nathalie ihn in seinen Sitz verfrachtet, aber ein Stück Zwieback wirkt Wunder.
Damit sich der Verkehr im Tunnel nicht staut, wird die Zufahrt durch Ampeln geregelt. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis die Ampel auf Grün schaltet.
Nathalie graut ein wenig vor der Fahrt durch die enge, dunk le Röhre, ohne Sonnenlicht und Aussicht auf die urwüchsige Bergwelt.
Ihre Gedanken wandern zu Vincent. Wo mag er sein? Ist er nur wenige Autolängen hinter ihr, oder konnte sie ihn abschütteln? Immer wieder schaut sie in den Rückspiegel, doch sein Porsche ist nirgends zu sehen.
Sie überlegt, ob sie sich auch mit ihm eingelassen hätte, wenn ihre Mutter nicht so früh gestorben wäre und ihr Vater sich nicht so stark verändert und ihr das Leben zur Hölle gemacht hätte. Wohl eher nicht. Was er ihr zu bieten hatte, als sie siebzehn war, hätte sie unter anderen Umständen kein bisschen interessiert. Aber er trat in einer Phase in ihr Leben, als sie kurz vor dem Selbstmord stand. Für sie war er ein Rettungsanker, nach dem sie greifen musste, um nicht unterzugehen. Warum er sich ausgerechnet sie als Freundin nahm, ist ihr bis heute schleierhaft. Ihr jedenfalls war von Anfang an klar, dass er eine dunkle Seite hat, doch das hatte sie nicht abgeschreckt, im Gegenteil, es hatte sogar eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Der Tag, an dem sie sich auf ein längeres Gespräch mit ihm einließ, markierte den Anfang ihres neuen Lebens. Und den Anfang vom Ende – nur wusste sie das damals noch nicht.
Ein Stück vor ihr kracht es, Bremslichter leuchten auf, rot wie Blutstropfen. Metall knirscht, Glas splittert.
Geistesgegenwärtig tritt Nathalie aufs Bremspedal. Mit quietschenden Reifen kommt ihr Auto zum Stehen. Sie wird nach vorn geschleudert, gleichzeitig steigt ihr der Geruch nach verbranntem Gummi in die Nase.
Sie richtet sich auf und prüft, ob sie sich verletzt hat. Nein, nichts Schlimmes. Nur das Brustbein schmerzt vom Aufprall auf das Lenkrad.
Entsetzt merkt Nathalie, dass sie sich mitten in einer Massenkarambolage befindet und nichts tun kann, um zu verhindern, dass der Hintermann auf ihren Wagen auffährt.
Neben ihr auf der Standspur rast plötzlich ein Auto vorbei und kracht in den Wagen, hinter dem sie vorhin an der Ampel stand. Im nächsten Moment gerät ein roter Fiat ins Schleudern und streift ihr Auto im hinteren Bereich.
Rasch wirft sie einen Blick auf Robbie. Mit ihm ist alles in Ordnung, er ist lediglich erschrocken, wie das Geschrei, das er angestimmt hat, vermuten lässt.
Vor und hinter ihr steht nun der Verkehr. Leute steigen aus, laufen aufgeregt umher, besehen den Schaden an ihren Autos.
Auch Nathalie steigt aus und inspiziert den Alfa Romeo. Die linke Hintertür ist eingedellt.
Sie lässt den Blick über das Chaos schweifen, über die kaputten Autos, die Menschen, die in Grüppchen zusammenstehen, betroffene Gesichter machen oder sich lautstark ereifern. Plötzlich sieht sie etwas zwischen den kreuz und quer stehenden Autos aufsteigen. Rauch?
Zögernd geht sie ein paar Schritte darauf zu. Tatsächlich, es ist Rauch! Und dann züngeln auch schon die ersten Flammen.
»Feuer!«, schreit Nathalie. »Es
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