Am Helllichten Tag
tatsächlich Vincent selbst? Hat er überlebt?
Nervös beißt sie sich auf die Unterlippe und ruft die letzte Nachricht ab. Als sie die Stimme hört, ist alle Hoffnung dahin: »Nathalie, ich bin’s. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, jedenfalls hast du verdammtes Glück, dass ich noch lebe. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du so einfach davonkommst.« Die Stimme schweigt für ein paar Sekunden. »Nico hat sich um meine Kopfverletzung gekümmert. Sei froh, dass ich dich gestern nicht erwischt habe, sonst hättest du dein blaues Wunder erlebt. Aber inzwischen hab ich mich wieder eingekriegt. Wir müssen reden, Nathalie. Ich weiß, dass du in Frankfurt bist. Ich bin im gleichen Hotel abgestiegen und warte morgen im Frühstücksraum auf dich. Bis dann.«
Nathalie wird schwindlig vor Angst. Das Telefon in der Hand, lässt sie sich auf die Bettkante sinken. Vincent ist hier, mit ihr unter einem Dach! Sie zweifelt keinen Moment daran, dass es stimmt. Er hat sie gefunden, wahrscheinlich mithilfe irgendeines Peilsenders am Auto. Das wäre typisch für ihn. Er muss immer alles unter Kontrolle haben. Nicht zuletzt deshalb hat sie schon mehrmals versucht, ihn zu verlassen.
Diesmal aber ist sie fest entschlossen, sich nie mehr schlagen und herumkommandieren zulassen. Nicht von Vincent und auch von sonst niemandem mehr. Sie ist erwachsen und kommt allein zurecht. Zu Vincent zurückzukehren kommt für sie nicht infrage, sonst wäre sie, nach allem, was passiert ist, so gut wie tot. Sie kennt seine Sprüche. Im Frühstücksraum, vor den anderen Hotelgästen, würde er sich nachsichtig geben, aber sobald sie allein wären, müsste sie büßen – wie, das will sie sich gar nicht erst vorstellen.
Bleibt also nur die Flucht. Aber falls er sie doch irgendwann zu fassen kriegt, hat sie ein Riesenproblem …
Kalte Schauder laufen ihr über den Rücken, Panik steigt auf.
Dann reißt sie sich zusammen und zwingt sich zu handeln. Hastig zieht sie sich an und packt ihre Sachen.
Robbie, der zufrieden an seinem Fläschchen nuckelt, folgt ihr mit den Augen.
Um halb sechs ist sie so weit. Der Kleine ist satt, und das wenige Gepäck, das sie mit aufs Zimmer genommen hat, steht an der Tür.
Frühstücken kann man zwischen sieben und elf, hat sie im Prospekt gelesen. Vincent kann warten, bis er schwarz wird – sie hat ihm nichts mehr zu sagen.
Rasch prüft sie, ob sie auch nichts vergessen hat, dann hängt sie das Gepäck an die Griffe des Buggys und schiebt ihn in den Flur. Kurz darauf drückt sie im Lift den Knopf fürs Erdgeschoss.
Dass Vincent nicht der Märchenprinz ist, für den sie ihn anfangs hielt, hat sie schon relativ bald gemerkt. Nachdem sie Knall auf Fall zu ihm gezogen war, kam sie vom Regen in die Traufe. Und er versuchte gar nicht erst, vor ihr zu verbergen, womit er sein Geld verdient.
Ab seinem siebzehnten Lebensjahr schlug er sich als Kleinkrimineller durch. Später beging er Einbrüche, auch im Auftrag für einen Anteil an der Beute, und organisierte Drogentransporte. So machte er sich im Milieu einen Namen und galt bald als einer der ganz schweren Jungs.
Zu Anfang hatte Nathalie kein Problem damit, dass Vincent auf illegale Weise seinen Lebensunterhalt bestreitet. Dass er anderen damit schadet, war ihr ziemlich egal, zumal sie sich selbst stets von ihren Mitmenschen im Stich gelassen fühlte. Nur bei Vincent wusste sie, dass er zu ihr halten würde, deshalb nahm sie den Preis dafür in Kauf.
Als sie herausfand, dass er noch viel üblere Dinge verübte als Einbrüche und Erpressungen, war sie bereits hoffnungslos in seine Machenschaften verstrickt. Sie war entsetzt, dass er auch vor Mord nicht zurückschreckte, und verweigerte ihm ihre Unterstützung, was Vincent mit Schlägen quittierte. Weil sie keinen Ausweg aus ihrem Dilemma sah, ließ sie zu, dass er sie mit falschen Papieren ausstattete, und tat alles, was er ihr auftrug. Mitmachen schien ihr weniger riskant zu sein, als sich zu verweigern oder die Polizei einzuschalten. Bis gestern Morgen, als er sich auf Robbie stürzte. Sie wollte unter allen Umständen verhindern, dass er sich an dem unschuldigen Kind vergriff, und handelte aus einem mütterlichen Reflex heraus.
Frankfurt, Mannheim, Karlsruhe … Unter höchster Anspannung fährt Nathalie in Richtung Süden. Sollte sich tatsächlich irgendwo ein Peilsender am Auto befinden, ist Vincent mit Sicherheit schon wieder hinter ihr her. Vorausgesetzt, er ist früh aufgestanden …
Es macht sie
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