Am Helllichten Tag
hypernervös, dass sie keine Ahnung hat, wie weit er von ihr entfernt ist. Sie hätte lieber ein Taxi zum Bahnhof nehmen und ihre Flucht per Zug fortsetzen sollen, aber an diese Möglichkeit hat sie in ihrem aufgelösten Zustand nicht gedacht. Sie kann es immer noch tun, das heißt, sobald sie sicher weiß, dass der Sender tatsächlich am Auto angebracht wurde. Genauso gut kann er im Futter ihrer Handtasche oder im Absatz ihres Schuhs verborgen sein.
Nein, denkt sie. Vincent konnte ja nicht wissen, welche Handtasche und welche Schuhe ich nehme.
Klar war lediglich, dass sie niemals ohne Robbie gehen würde. Sie nimmt sich vor, seine Sachen bei der nächsten Rast genau zu überprüfen.
Zwei Stunden nachdem sie aufgebrochen ist, hält sie an einer Raststätte auf der Höhe von Straßburg, um ein paar Sachen fürs Frühstück zu kaufen.
Ans Auto gelehnt, isst sie ein belegtes Brötchen und trinkt Milch aus einem Tetrapak. Dann wechselt sie in fliegender Hast Robbies Windel und füttert ihn mit etwas Obstbrei. Als er satt ist, nimmt sie sich die Wickeltasche vor und tastet das Futter ab. Nichts. Falls der Sender doch darin versteckt sein sollte, hat Vincent ganze Arbeit geleistet.
Sicherheitshalber leert Nathalie die Tasche komplett und räumt sie anschließend wieder ein.
Eigentlich müsste sie sofort weiterfahren, aber nach der unruhigen Nacht fühlt sie sich wie gerädert. Sollte Vincent plötzlich hier auftauchen, wird er sich hüten, sie zu belästigen. Sie weiß aus bitterer Erfahrung, dass man sich nicht auf die Hilfe anderer verlassen darf, aber es gibt Grenzen, und als Frau mit Baby hat sie gute Chancen, dass jemand sie in Schutz nimmt.
Mit Robbie auf dem Arm geht sie über die Wiese neben dem Parkplatz. Der Kleine lehnt das Köpfchen an ihre Brust und schließt die Augen.
Als Nathalie wieder am Auto ist und Robbie in seinen Maxi-Cosi gesetzt hat, macht sie ein paar Dehn- und Streckübungen, dann setzt sie sich ans Steuer.
Kurz darauf ist sie in Richtung Schweiz unterwegs. Wenn sie keine Pause mehr macht, kann sie in zwei Stunden in Zürich sein und mit etwas Glück gegen Abend an ihrem Ziel in Italien.
Weil Robbie eingeschlafen ist, macht Nathalie den CD -Player aus. Allmählich wird es voller auf der Autobahn, trotzdem kommt wie weiterhin zügig voran. In der Ferne kann sie bereits die Alpen sehen. Als Kind war sie immer begeistert, wenn sie auf der Fahrt nach Italien an schneebedeckten Berggipfeln vorbeikamen.
Die Strecke ist ihr vertraut, obwohl sie sie noch nie selbst gefahren ist. Bevor Cécile von zu Hause auszog, fuhren sie im mer zu dritt an den Lago Maggiore. Als die Geschäfte ihres Vaters schlecht liefen und er die Villa verkaufen musste, konnte sie nicht verstehen, warum er das Ferienhaus unbedingt behal ten wollte. Jetzt ist sie ihm dankbar dafür. Es ist schon komisch, dass sie es nun ausgerechnet ihrem Vater zu verdanken hat, für eine Weile untertauchen zu können.
11
Vincent war der erste Mensch, dem sie sich anvertraute. Und er sah auch nicht weg, als sie ihm die blauen Flecken zeigte, sondern nahm sie liebevoll in den Arm.
Von Cécile hatte Nathalie keine Hilfe zu erwarten. Jahrelang musste sie zusehen, wie sie allein zurechtkam. Nie wäre Nathalie auf die Idee gekommen, ihren eigenen Vater anzuzeigen. Lange wusste sie überhaupt nicht, dass Kindesmisshandlung strafbar ist. Sie wusste auch nicht, dass man ihrem Vater deswegen das Sorgerecht entziehen könnte, und selbst wenn, hätte sie vermutlich nichts unternommen. Für sie war sein Verhalten mehr oder weniger normal; er fuhr nun einmal leicht aus der Haut. Wenn er sie schlug, hasste sie ihn, aber sobald sich seine Wut gelegt hatte und er sich bei ihr entschuldigte, hatte sie ihn wieder gern. Ja, er tat ihr sogar leid, wenn er das Gesicht in den Händen verbarg und weinte, weil er schon wieder die Beherrschung verloren hatte.
Am meisten verwirrte sie seine Unberechenbarkeit. Völlig unvermittelt wurde aus dem vertrauten, liebevollen Vater ein gewalttätiger Fremder.
Nathalie lernte die kleinen Zeichen zu erkennen, die auf einen Wutausbruch hindeuteten. Eine pulsierende Ader an der Schläfe, mahlende Kiefer, ein verbissener Ausdruck in den Augen – dann wusste sie, dass sie sich in Acht nehmen musste. In solchen Situationen gab sie sich alle Mühe, sich unsichtbar zu machen, aber es half nichts: Seine Wut entlud sich mit Schlägen und Tritten, und sie war vollkommen machtlos.
Einmal stieß ihr Vater sie sogar die Treppe
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