Am Helllichten Tag
jetzt ist sowieso alles egal.«
Nathalie hört Julias stoßweise gehenden Atem.
Mühsam steht sie vom Boden auf.
»Sie hassen mich, ja?«
Mit dem Hörer in der Hand geht sie zum Fenster und späht hinaus. Nichts ist zu sehen. Niemand schleicht geduckt aufs Haus zu. Offenbar rechnen alle damit, dass es Julia gelingen wird, sie zum Herauskommen zu bewegen.
»Sind Sie noch da?«
»Ja …« Julias Stimme klingt jetzt anders, ein wenig gepresst. »Ich musste mich erst mal wieder fangen.«
»Sie können mir glauben: Ich wollte das nicht.«
Rauschen in der Leitung.
»Ich glaube Ihnen, dass es ein Unfall war. Kommen Sie jetzt bitte mit Robbie raus?«
Nathalie lacht verzweifelt auf. »Damit ich wegen Mordes verhaftet werde? Nein, ich komme nicht. Trotzdem bin ich froh, dass wir miteinander geredet haben.«
Sie geht in die Küche, wo es mittlerweile stark nach Gas riecht. Aus dem Telefon hört sie Julia ihren Namen rufen.
Nathalie lässt es fallen, nimmt die Streichhölzer aus der Hosentasche, reißt eines an und wirft es in die Benzinlache.
Sie hat eine Explosion erwartet, aber das Streichholz erlischt. Das zweite und das dritte ebenfalls.
Rasch geht sie ins Wohnzimmer und wühlt in den Kommodenschubladen nach Vincents Sturmfeuerzeug.
Sie klappt den Deckel auf, und als sie eine Flamme geschlagen hat, wirft sie es in der Küche von sich.
Fasziniert sieht sie zu, wie das Benzin sich entzündet.
Als sie Robbie jammern hört, läuft sie ins Wohnzimmer, hebt ihn aus dem Stühlchen und flüstert ihm Koseworte ins Ohr.
»Nicht weinen, mein Schatz«, sagt sie. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich lass dich nicht allein, ich bin bei dir. Ganz ruhig, gleich ist es vorbei.«
43
»Sie reagiert nicht mehr«, sagt Julia bestürzt. »Ich glaube, sie hat den Hörer einfach fallen lassen. Keine Ahnung, was da los ist.«
Sie sitzen im Polizei-Einsatzbus: Sjoerd, Ramakers, Ari und Louise, die als Verhandlerin hinzugezogen wurde. Per Handy stehen sie in ständiger Verbindung mit dem Staatsanwalt, um das Vorgehen abzusprechen.
Der Hof ist mittlerweile komplett umstellt, die Kollegen warten auf Instruktionen.
»Sie kommt jedenfalls nicht raus«, sagt Julia. »Und dass sie zugegeben hat, meine Oma die Treppe hinuntergestoßen zu haben, klang ganz so, als wollte sie ihr Gewissen erleichtern.«
Sie kann das Händezittern nicht unterdrücken und sieht, wie Ramakers und Sjoerd einen besorgten Blick tauschen.
»Frau Vriens, es wäre gut, wenn Sie fürs Erste nicht weiter über die Sache mit Ihrer Großmutter nachdenken würden«, sagt Ramakers. »Wir sollten uns jetzt darauf konzentrieren, das Kind zu befreien.«
»Dann müssen wir uns beeilen. Sie haben ja mitgehört; ich hab ein ungutes Gefühl.«
»Ich auch«, sagt Sjoerd. »Es hat sich so angehört, als wollte sie mit allem abschließen. Außerdem hat sie keinerlei Forderungen gestellt, weder nach Lösegeld noch nach einem Fluchtauto.«
Mit gerunzelter Stirn blickt Ramakers zum Haus hinüber, dann zückt er sein Handy. »Gut, dann rufe ich jetzt den Staatsanwalt an.«
Er fasst den Stand der Dinge kurz zusammen, lauscht und beendet das Gespräch mit einem »Gut, bis später«.
Dann greift er zum Funkgerät und erteilt den Befehl zum Zugriff.
»Verstanden. Over«, lautet die Antwort des Einsatzleiters.
Julia und Sjoerd steigen aus und beziehen Posten hinter einem Gebüsch am Waldrand.
Die ersten Polizisten verlassen die Deckung und laufen geduckt über die Wiese. Ihnen folgen zwei Kollegen mit einem massiven Rammbock.
»Was ist das?« Julia zeigt auf die grauen Schwaden, die aus einem Fenster im Erdgeschoss quellen. »Etwa Rauch?«
Sjoerd nickt. »Verdammt noch mal! Jetzt hat sie auch noch die Bude angezündet!«
Julia macht Anstalten loszurennen, aber er hält sie am Arm fest: »Bleib hier! Vielleicht ist es ein Trick. Sie könnte bewaffnet sein.«
»Mir egal! Sie hat ein kleines Kind bei sich!« Julia reißt sich los und läuft im Zickzack über die Wiese.
Sjoerd folgt ihr. Sie erreichen den Hof, als die Kollegen gerade mit dem Rammbock die Tür eingeschlagen haben und ins Haus stürmen.
Sekunden später ertönt ein ohrenbetäubender Knall, die Fenster zerbersten.
Julia wirft sich auf den Boden, schützt mit den Armen den Kopf vor herumfliegenden Glasscherben und -splittern.
Als keine weitere Detonation folgt, sieht sie vorsichtig auf.
Die Explosion muss im hinteren Bereich des Hauses stattgefunden haben, denn die Kollegen taumeln hustend, aber unversehrt
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