Am Helllichten Tag
bist meine beste Freundin«, sagt sie ernst. »Das weißt du, oder?«
»Ja, das weiß ich.«
Ein letztes Winken, dann ist Melanie fort.
Julia geht in die Küche und greift nach dem Wasserkocher. Dann stellt sie ihn wieder zurück und nimmt stattdessen die Flasche Rotwein von der Arbeitsplatte. Vier Uhr nachmittags ist zwar noch etwas früh für Alkohol, aber ihr ist jetzt eher nach einem Glas Wein als nach Kamillentee.
An den Schrank gelehnt, nimmt sie den ersten Schluck, dann einen zweiten. Sie schenkt nach, geht ins Wohnzimmer und setzt sich auf einen Umzugskarton.
Das war’s dann wohl … Ein Anflug von Melancholie überkommt sie, als sie sich im Raum umsieht.
Eigentlich hätte sie bis zum Ablauf ihrer einmonatigen Kün digungsfrist arbeiten müssen, dank des vielen Resturlaubs konn te sie aber schon wesentlich früher aufhören. Eine Woche lang war sie noch auf dem Revier, um laufende Projekte abzuschließen oder deren Übergabe vorzubereiten, und ehe sie sich’s versah, war der letzte Arbeitstag angebrochen. Das war gestern, und die Kollegen hatten als Überraschung eine kleine Abschiedsparty organisiert.
Sie hat einen großzügigen Geschenkgutschein bekommen und eine Karte, auf der alle unterschrieben haben. Neben Aris Name steht: »Du kannst nicht einfach gehen! Wen soll ich denn jetzt ärgern?«
Sjoerd hat sie, seit er in der Klinik ist, nicht mehr gesprochen. Eigentlich wollte sie am Umzugstag auf dem Weg nach Amersfoort kurz bei ihm vorbeifahren, aber diese Idee hat sie schnell wieder verworfen. Der Brief muss reichen; mehr gibt es nicht zu sagen. Ihn noch einmal zu sehen würde alles nur schwerer machen.
Julia hat lange nachgedacht und begriffen, dass sie sich nicht zuletzt deshalb zu Sjoerd hingezogen fühlt, weil er so ein überzeugter Familienmensch ist.
Dass sie eine Zeit lang glaubte, ihr Glück auf dem Leid anderer aufbauen zu können, war ein großer Irrtum, eine Art Verblendung. Man kann zwar ein Haus bauen, aber wie soll man darin wohnen, wenn das Fundament nicht solide ist? Mag sein, dass andere sich über so etwas hinwegsetzen können, Julia nicht. Sie hat schon genug Schuldgefühle wegen des Todes ihrer Großmutter; mehr würde sie einfach nicht verkraften. Es gibt immer wieder Situationen im Leben, in denen man unbewusst eine falsche Entscheidung trifft, doch jetzt, wo sie Gelegenheit hat, das Richtige zu tun, kann sie nicht dermaßen egoistisch handeln.
Julias Gespräch mit Taco verläuft in groben Zügen wie das mit Melanie, nur endet es anders.
»Das kommt aber plötzlich«, sagt er, nachdem sie von ihrer Versetzung erzählt hat. »Und was bedeutet das für uns?«
»Ich weiß nicht recht«, sagt Julia. »Du kannst mich ja besuchen.«
»In Amersfoort!?« Es klingt, als hätte sie vor auszuwandern.
Mit hochgezogenen Schultern steht er vor ihr, die Hände in den Jackentaschen vergraben.
»Wirklich, Julia, ich finde das total daneben«, sagt er. »Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen. Bei solchen Entscheidungen hab ich doch wohl auch ein Wort mitzu reden!«
Er wirkt ehrlich entrüstet, fast schon beleidigt. Dass sie ihren Entschluss nicht mit ihm besprochen hat, stört ihn anscheinend weitaus mehr als der Umstand, dass sie wegzieht.
»Nun mach mal halblang. Schließlich sind wir nicht verheiratet, sondern kennen uns erst ein paar Monate«, sagt sie beschwichtigend. »Und bisher hatten wir es doch auch schön zusammen; daran muss sich nichts ändern.«
»Du hast sie wohl nicht alle! Soll ich etwa jedes Wochenende nach Amersfoort fahren oder was!?«
Sie mustert ihn so gründlich, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen, und ein wenig ist es auch so. Im Grunde war längst klar, was ihr erst jetzt richtig bewusst wird: dass sie nicht zusammenpassen.
»Nein, das erwarte ich nicht«, sagt sie mit ruhiger Stimme. »Und vielleicht hast du ja recht, dass es auf Distanz nicht funktioniert. Wenn es dir lieber ist, können wir unsere Beziehung auch hier und heute beenden. Dann sparst du eine Menge Benzin.«
Der ironische Tonfall soll Taco die Möglichkeit geben, zu lachen, sie in die Arme zu nehmen und zu sagen, so hätte er es nicht gemeint und für sie sei ihm kein Weg zu weit.
Stattdessen starrt er sie mit wutverzerrtem Gesicht an. »Wie? Du willst Schluss machen?«
Mit einem Mal hat sie das Gefühl, dass da ein Wildfremder vor ihr steht, nicht der smarte Mann, den sie geküsst und gestreichelt hat und mit dem sie eine schöne Zeit hatte, auch wenn sie sich manchmal
Weitere Kostenlose Bücher