Am Helllichten Tag
genommen oder ein Auto angehalten haben. Jetzt wird landesweit nach ihr gefahndet, aber ich vermute, sie ist längst über die Grenze.«
Sie wirft einen Blick auf den Herzmonitor, der eine beruhigend regelmäßige Kurve anzeigt.
»Weißt du, mir ist es eigentlich egal, ob sie gefasst wird oder nicht. Mir wäre zwar wohler, wenn sie ihre Strafe bekäme, auch für das, was sie meiner Oma angetan hat. Aber andererseits … Ach, ich weiß nicht.«
Ihr ist, als würden die roten und grünen Lämpchen der Apparate mit ihrem Blinken Antwort geben.
Sjoerds Brustkorb hebt und senkt sich, begleitet von einem rhythmischen Sauggeräusch.
Julia sieht zum Empfangsbereich hinüber. Melanie ist nicht da; wahrscheinlich nutzt sie die Gelegenheit, um kurz auf die Toilette zu gehen oder zu telefonieren.
Es sind kostbare Minuten für Julia, vielleicht die letzten mit Sjoerd …
Nachdenklich betrachtet sie seinen Mund, der sie angelacht und geküsst hat. Ob Melanie weiß, dass sie es war, die ihn beatmet hat, und dass sich ihre Lippen dabei nicht zum ersten Mal um die seinen schlossen? Nein, sie ahnt bestimmt nichts. Für Melanie ist sie eine Freundin und nur beruflich die Partnerin ihres Mannes. Hätte sie auch nur den geringsten Verdacht, dass zwischen ihnen etwas läuft, hätte sie sie niemals mit Sjoerd allein gelassen, damit sie ihm liebevolle Worte zuflüstern und Pläne für die Zukunft schmieden kann. Pläne, die sie und ihr Kind in großes Leid stürzen würden.
Eine Hand legt sich auf ihre Schulter. »Julia? Ist alles okay?«
Sie zuckt zusammen; ganz in Gedanken versunken, hat sie nicht mitbekommen, wie Melanie hereinkam.
Julia sucht nach Worten, aber Melanie scheint gar keine Antwort zu erwarten.
»Geh jetzt nach Hause«, sagt sie leise. »Und versuch, ein wenig zu schlafen. Es war ein langer und schwerer Tag.«
»Rufst du mich an, wenn was ist? Ich hab mir hier in Tilburg ein Hotelzimmer genommen, aber du hast ja meine Handynummer.«
»Selbstverständlich rufe ich dich an. Ich schlafe heute Nacht in der Klinik. Joey ist bei Sjoerds Eltern. Und pass auf dich auf, ja?«
Nach einem langen Blick auf Sjoerd verlässt Julia den Raum. Draußen sieht sie sich noch einmal um: Melanie scheint sie bereits vergessen zu haben, sie beugt sich gerade über Sjoerd und streichelt seine Wange, so zärtlich, dass Julia sich schnell abwendet und geht.
Im Hotelzimmer nimmt sie den Weißwein aus der Minibar, gießt sich ein Glas ein und setzt sich in den blauen Sessel am Fenster. Den Vorhang lässt sie offen, damit sie auf die dunkle, stille Straße hinunterblicken kann, allein mit ihren Gedanken und ihrem Kummer und zugleich im vollen Bewusstsein, dass sie jetzt die schwierigste Entscheidung ihres Lebens treffen muss.
47
Im Frühstücksraum ist noch niemand, als Julia am nächsten Morgen ihr Müsli mit Joghurt löffelt.
Es ist noch nicht ganz sieben, als sie das Auto anlässt und nach Roermond fährt.
Ari telefoniert gerade, als sie das Büro betritt, Koenraad fixiert angestrengt den Bildschirm seines PC . Die beiden – und nicht nur sie, denn Julia ist im Flur mehreren sichtlich übermüdeten Kollegen begegnet – haben die Nacht durchgearbeitet. In Aris Papierkorb stapeln sich Styroporschachteln, seinen Schreibtisch zieren ein Stück Gurke und Mayonnaisekleckse. McDonald’s scheint mal wieder guten Umsatz gemacht zu haben …
»Gibt’s was Neues?«, fragt sie.
Koenraad informiert sie mit wenigen Worten: Inzwischen werde über Interpol mit allen verfügbaren Mitteln nach Dagmar gesucht, bisher ohne Erfolg. Die verkohlte Leiche aus dem Wohnzimmer werde bereits obduziert, eine DNA -Untersuchung solle die Identität des Toten klären.
»Und wie geht’s Sjoerd?«, fragt Koenraad seinerseits.
»Gestern Abend ist er noch beatmet worden«, sagt sie. »Wie es ihm jetzt geht, weiß ich nicht. Ich rufe nachher mal seine Frau an. Aber vielleicht weiß Ramakers ja mehr. Ist er schon da?«
»Schon? Ich denke, er hat auch durchgearbeitet.«
Julia macht sich auf den Weg zum Büro des Hauptkom missars.
Die Tür steht halb offen; sie sieht ihn, über irgendwelche Papiere gebeugt, am Schreibtisch sitzen.
Als Julia klopft, schaut er auf. Dass auch er sich die Nacht um die Ohren geschlagen hat, beweist sein müder Blick.
»Frau Vriens, nehmen Sie Platz.«
Julia schließt die Tür und setzt sich.
»Ich war gestern Abend noch im Krankenhaus, bei Sjoerd«, beginnt sie. »Er liegt auf der Intensivstation und hing am
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