Am Horizont die Freiheit
Geländer werfen würde. Das hätte er gewiss auch getan, wenn die Soldaten nicht eingegriffen hätten, die den Administrator stets begleiteten und nun vom Eingang des Gotteshauses herbeiliefen. Als sie ihn erreichten, hatte er den Geistlichen bereits am Hals gepackt, dem das Gesicht purpurrot angelaufen war.
»Werft ihn aus der Kirche!«, rief der Administrator mit erstickter Stimme, als sie Tomás wegbrachten. »Und wag dich nicht wieder an diesen Ort! Du bist exkommuniziert!«
7
E rst am nächsten Tag begriff Joan allmählich das ganze Ausmaß des Unglücks. Tomás zog zu den Jungen und brachte ein paar seiner Sachen mit. Er sagte, sein Haus enthalte zu viele Erinnerungen, und andererseits gebe es dort eine unerträgliche Leere. Auch Joans Haus bewahrte Erinnerungen. Jeder Gegenstand rief Bilder einer glücklichen Vergangenheit hervor, und er konnte seine Gedanken nicht von seinen Eltern, seiner Schwester und Elisenda abwenden. Isabel hatte man nach Palafrugell geschafft: Im Dorf selbst gab es keine Frau, die ihr die Brust geben konnte. Sie lebte bei einer Amme, die sie stillte, wofür ihr der Administrator etwas Geld bezahlte. Doch Isabel nahm kaum etwas zu sich.
Und sie hatten die
Möwe
nicht mehr. Die Sarazenen hatten zwar die drei kleinen Boote zurückgelassen, doch sie alle zusammen brachten nicht einmal ein Viertel des Fangs ein, den Ramóns Boot gemacht hatte. Joan sagte sich, wenn sie ihnen wenigstens die
Möwe
gelassen hätten, würde die Mannschaft wieder arbeiten, und die neun Familien, die davon lebten, könnten eine Zukunft haben. Wehmütig dachte der Junge an den stolzen Kahn zurück.
Man hatte die
Möwe
zwei Jahre zuvor an diesem Strand in Llafranc gebaut. Hinter ihnen lag eine gute Fangzeit, und Joans Vater beschloss, mit den Ersparnissen und dem Verkaufserlös der roten Korallen, die er mehrere Jahre lang aufbewahrt hatte, ein größeres Boot mit acht Rudern und einem guten Lateinsegel zu bauen. Ramón war Schiffsführer und Eigentümer, und wenn es einen guten Fang gab und etwas übrig blieb, wurde er in elf Teile aufgeteilt. Ihm kamen drei Teile und den anderen Fischern je einer zu. Aber wenn der Fang gering ausfiel, wurde er nur in neun Teile aufgeteilt, und Ramón bekam einen Teil wie die Übrigen.
Er beauftragte einen angesehenen Schiffszimmermann aus Palamós, und als der Meister eines Morgens am Ende des Winters eintraf, war dies ein Ereignis. Das ganze Dorf half mit, die Arbeitsgeräte und ein paar »Schablonen« genannte Holzstücke auszuladen, die, wie sie später erfuhren, die Modelle des zukünftigen Kiels und der Spanten waren.
Das neue Boot bestand zunächst nur aus ein paar Zeichen auf dem Boden. Der Zimmermannmeister brachte sie an einer Stelle an, die nicht weit vom Meeresufer entfernt war, aber doch weit genug, dass die Wellen sie selbst an den schlimmsten Sturmtagen nicht erreichen konnten. Alle arbeiteten mit, und die Zimmerleute aus Palafrugell beteiligten sich, indem sie selbst mit Hand anlegten und das Eichenholz für Spanten und Kiel wie auch das Pinienholz für die Verkleidung lieferten. Damals begann Joan, mit den übrig gebliebenen Holzstücken zuerst kleine Schiffe, die er auf dem Meer schwimmen ließ, und dann Tiere zu schnitzen. Der Junge bestaunte, wie das Boot größer wurde und Gestalt annahm. Zunächst erinnerte es ihn an das Skelett eines gestrandeten Wals, mit den Spanten als Rippen und dem Kiel als Rückgrat. Nach und nach nahm das Schiff dann seine endgültige Form an.
Schließlich fand der feierliche Stapellauf statt, und Joan durfte mit dem Boot zum Fischfang hinausfahren. Als sein erster Tag endete und der Moment der Aufteilung der Beute kam, nahm Tomás eine Zeremonie mit vielen Verbeugungen und Beifall vor, und er überreichte dem Kind eine winzige silberne Sardine. Er sagte, das sei der Lohn für den ersten Tag eines Fischers. Alle lachten, aber Joan lief stolz nach Hause, damit seine Mutter den Fisch briet. Das war sein erster Lohn. Der Junge war zehn Jahre alt.
Seit jenem Tag waren erst zwei Sommer vergangen, aber alles hatte sich verändert.
Die Untätigkeit war das Schlimmste. Die Leute kamen in Gruppen zusammen, um mit den anderen über ihre Sorgen zu sprechen – das Schicksal der Verwundeten und Gefangenen, ihre Angst vor einer finsteren Zukunft und ihre Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die ihnen früher zuweilen hart erschien, an die sie aber nun wie an das Paradies zurückdachten.
»Wovon sollen wir leben, wenn der Winter
Weitere Kostenlose Bücher