Am Horizont die Freiheit
sie mich von Mama trennten und mich an dieses Gasthaus verkauften. Als es so weit war, habe ich meinen ältesten Sohn geboren. Meine Herrschaften haben sich gut benommen und sich um mich gekümmert.«
»Natürlich!«, rief Joan. »Sie wollten mit dir kein Geld verlieren und stattdessen mehr verdienen, indem sie auch noch deinen Sohn versklavten.«
»Als ich meinen Herrn bat, einen Preis für meinen Freikauf festzusetzen, verlangte er sechzig Dukaten«, erzählte María weiter, ohne auf den Einwand ihres Bruders einzugehen.
»Sechzig Dukaten!«, rief Joan empört. »Unglaublich! Das ist ein erbärmlicher Kerl. Er wollte dich nicht freilassen.«
»Das war nicht er, sondern sein Vater. Aber als er starb, bestand sein Sohn auf diesem Preis. Oft habe ich versucht zu sparen, doch wenn ich ein bisschen Geld zusammen hatte, wurde immer eines der Kinder krank, und ich habe alles für die Ärzte ausgegeben. Der Herr bezahlte den Arzt für mich, aber nicht für sie.«
Eulalia umschlang ihre Tochter und wiegte sie in den Armen, um sie zu trösten. Joan schwieg, denn er wusste, dass die Prostitution die einzige Möglichkeit war, wie eine Sklavin etwas für ihren Freikauf sparen konnte. Die männlichen Sklaven fanden verhältnismäßig einfach Sonderarbeiten, die körperliche Anstrengung verlangten, indem sie Lasten auf Molen oder Feldern abluden. Aber solche Arbeiten waren nichts für Frauen. Die meisten von ihnen gingen häuslichen Verrichtungen nach. Darum blieb ihnen nur die Wahl, sich zu prostituieren, und wenn sie in einer Gastwirtschaft arbeiteten, trat der Wirt selbst als Zuhälter auf und steckte einen großen Teil des Geldes ein. Joan war sicher, dass dies auf seine Schwester zutraf. Er musste sie nicht einmal fragen, warum man sie Julia nannte. Er wusste, dass die Zuhälter ihren Prostituierten »Decknamen« gaben, die sie für aufreizender hielten. Nun verstand er, warum ihre Mutter nie eine Nachricht von den Fischern bekommen hatte, obwohl sie diese nach ihr fragte. Vernazza war nicht nur weit entfernt und isoliert, vielmehr kannte man seine Schwester auch nicht als María, sondern als Julia.
»Das ist jetzt vorbei«, sagte Joan. »Komm mit, und deine Kinder werden meine Kinder sein.«
María blickte ihn dankbar an.
115
B evor sie abreisten, wollte Joan Elisenda sehen. Am nächsten Tag machte er sich zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und Niccolò auf den Weg zu dem Bauernhof, in dem sie mit ihrem Mann lebte. Nachdem er sich einen großen Teil der Nacht mit María und Eulalia unterhalten hatte, lief er an diesem Morgen schweigsam und gedankenversunken auf dem leicht ansteigenden, von Ölbäumen gesäumten Weg durch das Tal.
Er hatte seinem Paten Tomás versprochen, dessen Tochter zu befreien. Natürlich hatte der gute Mann wohl nicht an das Wort einer zwölfjährigen Rotznase geglaubt, obwohl ihn das selbst nicht von seinem Versprechen befreite. Er musste sich vergewissern, dass es Elisenda gutging, und ihr die Möglichkeit geben, nach Llafranc zurückzukehren, wenn sie es wollte.
Seitdem er Anna kennengelernt hatte, fühlte er sich schuldig. Es kam ihm so vor, als hätte er Elisenda gegenüber ein Gelübde gebrochen, und nie konnte er sich ganz von diesem Gefühl befreien, dass er Verrat begangen hätte. Als er erfuhr, dass sie verheiratet war und Kinder hatte, empfand er eine große Erleichterung. Er wollte sie gern wiedersehen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gutging.
Elisendas Haus hatte zwei Stockwerke. Es sah gepflegt aus, und an den Seiten standen Feigenbäume, deren letzte Früchte zwischen den grünen Blättern hervorschauten, und eine schon gelbe Farbtöne annehmende Weinlaube, an der sich noch einige goldene Trauben befanden. Die Hunde bellten, und aus dem Haus kamen zwei blonde Kinder. Das eine war ungefähr fünf und das andere drei Jahre alt. Nachdem sie die Neuankömmlinge erblickt hatten, liefen sie wieder hinein und schrien laut. Dann erschien eine Magd, die nach ihrer Herrin rief, während sie die Hunde zurückhielt. Es roch nach Eintopf. Als sie den zum Haus führenden Pfad betraten, erschien sie an der Tür.
Joan hielt den Atem an. Unverzüglich erkannte er an dieser Frau mit dem roten Kleid die Gesichtszüge jener Elisenda wieder, an die er sich erinnerte, ihr blondes Haar und ihre blauen Augen. Doch während das Mädchen größer und schlanker als er gewesen war, war die heutige Elisenda kleiner und hatte rundliche Formen.
Sie blickte sie halb überrascht und halb
Weitere Kostenlose Bücher