Am Horizont die Freiheit
wusste ebenso gut wie sie, dass er nichts für seine Schwester tun konnte. Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, rannte er zusammen mit seinem Bruder weiter bergab.
Als Joan zurückblickte, sah er den einäugigen Mauren, der seine Mutter am Haar zog. Er wollte sie hochreißen, doch sie sträubte sich, ohne dabei die kleine Isabel loszulassen. Ihre Schreie und das Gebrüll der Kleinen zerrissen ihm das Herz. Es drängte ihn, ihr zur Hilfe zu eilen, doch die Furcht lähmte ihn: Ein ganzer Piratenhaufen kam auf ihn zu, und er wusste, dass seine kümmerlichen Kräfte nichts würden ausrichten können. Er musste Gabriel retten, das war im Augenblick alles, was zählte.
Joan entdeckte als Erster den Abgrund zu seinen Füßen. Obwohl sie den Berg gut kannten, wären sie beinahe über den Rand der Steilwand gestürzt, die senkrecht zu einer Klippe hinabreichte, an deren Felsen sich die Meereswellen brachen. Erst im letzten Augenblick konnte er Gabriel festhalten. Keuchend sahen sie, wie Steine nach unten rollten und an den Küstenfelsen zerschellten. Es war ein gefährliches Gelände, doch Joan erkannte, dass sie gerade deshalb in Sicherheit waren: Der Feind hatte damit zu tun, so viele Dorfbewohner wie möglich einzufangen, und sie befanden sich an einer schwer zu erreichenden und weit entfernten Stelle.
»Was ist mit Mama geschehen?«, wollte Gabriel wissen, als er wieder zu Atem gekommen war. »Wo ist Papa?«
»Das weiß ich nicht.«
Gabriel begann zu weinen. Während Joan schwieg, rannen auch ihm die Tränen über die Wangen. Er umarmte seinen Bruder und sagte: »Gehen wir hier weg. Wir müssen uns verstecken.«
»Ich will zu Papa und Mama!«, schluchzte der Kleine. »Und zu María und Isabel.«
»Ich auch, Gabriel, ich auch. Aber jetzt müssen wir erst einmal von diesen bösen Leuten wegkommen. Wenn sie fort sind, suchen wir nach unserer Familie. Komm, wir laufen zu einem sicheren Ort.«
Gabriel starrte ihn durch die Tränen hinweg an und nickte schließlich. Sie kletterten zum Wehrturm hinauf, klammerten sich an Sträucher und Pinienwurzeln, hielten sich im Dickicht verborgen, das Meer und den Steilhang im Rücken.
Die Glocke ertönte nun mit Unterbrechungen. Sie bekundete, dass sich die Dörfler wehrten und weiter nach oben vordrangen.
»Das sind Joan und Gabriel, die Söhne Ramóns!«, hörten sie jemanden rufen, als sie den Gipfel beinahe erreicht hatten. Sie erkannten zwei Nachbarn, die mit ihren gespannten Armbrüsten die Seeseite überwachten.
»Kommt hier hoch«, rief man ihnen zu. »Beeilt euch.«
Die beiden Jungen unternahmen eine letzte Anstrengung, um ihr Ziel zu erreichen. Die Männer hatten Deckung hinter den Felsen gesucht, in einem Kreis rund um den Turm; allerdings waren sie vorbereitet, sich notfalls ins Turminnere zurückzuziehen. Der Eremit und die Dorffrauen nahmen sich sofort der beiden Brüder an und kümmerten sich um sie. Joan hatte gar nicht gemerkt, wie durstig er war, bis er einen Schluck Wasser trank. Dann brach er in Tränen aus.
3
J oan sah, dass viele Leute – mehr Frauen als Männer – aus dem Dorf fehlten. Die Frauen kümmerten sich um die Verwundeten und die Kinder. Die kleinsten weinten, manche fragten nach ihren Eltern, und Gabriel schloss sich dem trostlosen Jammern an. Auch die Älteren hatten Tränen in den Augen.
Vom Gipfel erblickte man einen Teil der Küste von Llafranc und die Galeere. Mit ihren vielen Rudern wirkte sie wie ein ungeheurer Tausendfüßler. Er schien die Häuser zu verschlingen, die nur wenig von der Stelle entfernt waren, wo das Schiff seinen Kiel in den Sand bohrte.
Joan konnte nicht ruhig bleiben. Seine Ängste überwältigten ihn: Er musste wissen, was vor sich ging. Als Tomás und Daniel sagten, sie würden zum Dorf hinunterlaufen, um nachzusehen, ob sie jemandem helfen könnten, wollte er sie begleiten.
»Aber wohin gehst du?«, protestierte Clara, die Frau Daniels, und fasste ihn am Arm. »Du treibst es noch so weit, dass sie dich umbringen!«
Joan sträubte sich heftig und stieß hervor, sie solle ihn loslassen, er wolle seine Familie wiederfinden.
»Wenn sie zurückkommen sollten, tun sie es aus eigener Kraft«, entgegnete sie. »Du kannst nichts tun.«
»Lass ihn, Frau«, griff Tomás ein. »Er soll mit uns kommen. Es ist Schluss mit seiner Unschuld. Heute muss er ein Mann sein.«
Joan sagte sich, dass ihm noch einiges fehlte, bis er ein Mann sein würde. Doch er lief den beiden anderen hinterher, die sich mit
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