Am Meer ist es wärmer
hatten, fuhren wir zurück. Du bist wirklich eine seltsame Nummer, Kei. Auf der Rückfahrt musste Rei immer wieder lachen. Momo schlief fest. Später schimpfte meine Mutter mit mir: »Man bringt doch ein so kleines Baby nicht ans Meer, wo die Sonne so stark ist. Momo hat ja noch nicht einmal Okuizome hinter sich.« Okuizome wird gefeiert, wenn ein Baby drei Monate alt ist und man ihm zum ersten Mal feste Nahrung gibt.
Im nächsten Jahr fuhren wir zur gleichen Zeit wieder zu dritt ans Meer. Ich hatte keine Angst mehr.
Es begann zu regnen, und der Wind frischte auf.
»Jetzt sind wir extra hergefahren, aber so ist es ja blöd.« Momo lehnte sich an mich. Durch die große Scheibe sah man das Meer. Die Wellen tosten. Auf der kleinen Terrasse standen zwei mit Kunststoff bezogene weiße Stühle. Typisch Resort, wirklich. Momo deutete darauf. Die Stühle waren völlig durchnässt.
Die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, schauten wir beide in den Regen. Momos Körper war warm. Ihr Atem ging rasch. Ach, meine arme Kleine, dachte ich.
Kindliche Wesen sind anrührend. Auch durch ihre Unwissenheit. Aber selbst wenn Momo eines Tages alles weiß und erwachsen ist, wird sie mich noch immer auf diese Weise rühren. Wenn vielleicht auch nicht mehr so stark.
Wir legten uns aufs Bett und lasen die Hotelbroschüre. »Es gibt hier ein Gourmetmenü«, sagte Momo mit etwas spöttischem Unterton. »Wollen wir das Gourmetmenü in unserem Strandresort essen? O ja, bitte. Aber bestimmt ist es teuer. Hast du genug Geld dabei, Mama?«
Je nach Windrichtung peitschte der Regen gegen die Scheibe. Obwohl wir in Manazuru waren, wurde ich noch nicht verfolgt. Unser Zimmer war hell und sauber. In einer der tiefen Schubladen des Einbauschranks lagen weiße Bademäntel und Pyjamas. Momo zog den weißen Bademantel über ihre Kleidung. Unbequem, sagte sie, zog den Mantel aus und begann, sich ihrer Kleider zu entledigen. Dann zog sie den Bademantel über T-Shirt und Unterhose. Lässig zurückgelehnt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, saß sie auf der Stuhlkante und blickte zur Decke.
»So einen Bademantel wollte ich schon immer mal anprobieren.« Momo setzte sich auf und befühlte den flauschigen Saum.
Ich musste an Krankenhausgeruch denken. Vielleicht weil das Zimmer so hell war? So hatte es in dem Zimmer gerochen, in dem mein Vater nach seinem Herzinfarkt lag. Anfangs war er auf der Intensivstation gewesen. Das Krankenhaus war eigentlich hell und ruhig gewesen. Mein Vater wirkte sehr klein in seinem Bett. Meine Mutter und ich zogen ihm mit Hilfe einer Schwester behutsam den OP-Kittel aus, den er auf der Intensivstation angehabt hatte, und halfen ihm in den Schlafanzug, den er zu Hause immer trug. Er war bei Bewusstsein, hielt aber die Augen fest geschlossen. An seinen Mund und seine Nase waren Schläuche angeschlossen. Nach einiger Zeit wurde er entlassen, aber nach dem nächsten Anfall im folgenden Jahr kam er nicht mehr nach Hause.
»Der Bademantel steht dir gut«, sagte ich. Sie lachte und zog die Nase kraus. »Und ich habe genug Geld für das Gourmetmenü.«
»Hurra!«
»Wenn der Regen aufhört, gehen wir spazieren.«
»Meinst du, es hört auf?«
»Natürlich, irgendwann.«
»Irgendwann...« Momo spielte weiter mit dem Saum des Bademantels.
Ebenso plötzlich wie er angefangen hatte, hörte der Regen auf.
Das Gras duftete. Es war noch jung und kurz, wie ein zarter Flaum, aber nach dem Regen duftete es. Wir machten einen Rundgang. Momo trug ihre kleine Tasche schräg über der Schulter. Es war noch immer böig. Ihre Haare flatterten. Momo zog eine Spange hervor und befestigte sie mit einem leisen Schnappen in ihrem Haar. Ein paar lose Strähnen fielen ihr in die Stirn.
»Hat Vater...«
»Vater?«
Der Sand war dunkel und feucht. Ich legte ein Taschentuch auf einen großen Felsen, und wir setzten uns darauf.
»Hat Vater geraucht?«
»Ab und zu«, antwortete ich, nach kurzem Nachdenken. Ich wusste es nicht mehr genau.
Mehr fragte sie nicht. Seit ich überlegt hatte, ob ich das Namensschild entfernen sollte, konnte ich wieder von Rei sprechen. Bis dahin hatte ich so getan, als hätte er nie existiert. Konnte weder von ihm sprechen noch an ihn denken. Ich träumte auch nicht von ihm. Sobald man von einem Verlust träumen kann, beginnt die Wunde zu heilen, habe ich gehört.
Als ich wieder von Rei sprechen konnte, hatte ich Momo ein Foto von ihm gezeigt. Vorher hatte sie nie nach ihm gefragt. Sie muss gespürt haben, dass es
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