Am Meer ist es wärmer
Form erinnert mich an etwas«, sagte ich.
»Wirklich?«, erwiderte er. Noch immer kam ich nicht darauf, an wessen Stimme mich sein Tonfall erinnerte. Aber woran die Form der Landspitze mich erinnerte, wusste ich sofort: an einen Drachenkopf. Sogar die Schnurrbarthaare an den Nüstern waren zu erkennen.
»Zu Fuß brauchen Sie eine knappe Stunde bis zum Kap«, sagte der Sohn. »Wenn Sie gemütlich gehen, dauert es länger«, rief die Mutter aus dem Inneren herüber.
»Vielleicht werde ich noch eine Nacht bleiben. Haben Sie etwas frei?« Die Pension war leer. Offensichtlich war ich in der Nacht der einzige Gast gewesen. Ich erwartete ein »Ja, natürlich«, aber der Sohn wiegte zweifelnd den Kopf.
»Freitags kommen die Angler«, sagte er. »Bei ruhiger See sind die Zimmer meistens belegt. Rufen Sie lieber von unterwegs noch einmal an.«
Ich nickte unverbindlich und verließ die Pension. Eigentlich hatte ich vor, zuerst mein Gepäck am Bahnhof aufzugeben. Auf dem Fahrplan an der Bushaltestelle sah ich, dass der nächste Bus erst in einer halben Stunde kam. Zu Fuß würde ich ebenfalls eine halbe Stunde brauchen. Zögernd betrachtete ich den steil bergauf führenden Weg und entschied mich zu warten. Dann ging ich hinunter zum Strand.
Langweilig, das Meer. In eintöniger Folge schlugen die Wellen an den Strand. Ich ließ mich auf einem mittelgroßen Felsen nieder und blickte auf die offene See. Es war stürmisch. Ab und zu sprühte Gischt zu mir herüber und benetzte mich. Obwohl dem Kalender nach der Frühling längst begonnen hatte, war es kalt. Funamushi - Strandasseln - wuselten unter meinem Felsen herum.
Mein Besuch war nicht geplant gewesen. Ich hatte einen geschäftlichen Termin im Bahnhof Tokio gehabt, und wir waren schon gegen sieben Uhr mit dem leichten Abendessen fertig gewesen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mit der Chūō-Linie nach Hause zu fahren, aber aus irgendeinem Grund ging ich zum Bahnsteig der Tokaidō-Bahn und stieg dort in einen Zug. Ich wollte bis Atami fahren und dann auf dem Rückweg in Tokio einen Anschlusszug der Chūō-Linie nehmen. Doch auf einmal fühlte ich mich so verloren, dass ich trotz inneren Widerstrebens fast wie unter Zwang irgendwo ausstieg. So war ich nach Manazuru (*) gelangt.
Ich verließ den Bahnsteig durch einen engen Gang und passierte die Fahrkartensperre. Die Information auf dem Bahnhofsplatz war längst geschlossen, und ich bat einen Taxifahrer, mich zu einem Hotel zu bringen. Er kenne eine kleine, aber ganz ordentliche Pension, sagte er und fuhr mich zu dem Haus mit dem Schild »Suna«.
Im Zug hatte ich einen Anruf von meiner Mutter bekommen. Was sie Momo am nächsten Tag in die Schule mitgeben solle. Alles außer dem Hähnchen im Kühlschrank, wollte ich schon sagen, doch dann hielt ich mich zurück. Du kannst alles nehmen, sagte ich. Als ich mich für meine plötzliche Abwesenheit entschuldigte, wehrte sie ab. »Macht doch nichts.« Ihre Stimme klang weit fort.
Auch hier hatte ich das Gefühl, dass mir etwas folgte, und wandte mich um, aber außer mir war niemand auf dem Bahnsteig. Nicht einmal ein Schatten.
Ich blickte aus dem Fenster der Tokaidō-Bahn und vermeinte, das Meer zu sehen. Aber es war so dunkel, dass ich mir nicht sicher war. Es kam hin und wieder vor, dass ich einige Tage dienstlich verreisen musste und meine Mutter und Momo allein ließ, aber noch nie war ich so plötzlich über Nacht fortgeblieben. Auch mit Seiji hatte ich noch nie eine ganze Nacht verbracht. Er hatte Kinder. Drei. Das zweite war so alt wie Momo, also in der neunten Klasse. Und eine Frau.
Ich fuhr also mit dem Bus zum Bahnhof und brach von dort aus zu Fuß zur Landspitze auf.
Eigentlich verwunderlich, dass ich, spätabends und nur mit einer kleinen Tasche, vorbehaltlos und ohne weitere Fragen ein Zimmer bekommen hatte. Am Abend zuvor hatte ich mir kaum Gedanken über den Namen »Suna« gemacht, doch nun beschäftigte er mich immer mehr. Nicht einmal wegen seines Klangs oder seiner Bedeutung, sondern eher, weil ich mir keinen passenden Vornamen dazu vorstellen konnte.
Die Straße führte sachte bergauf. Hinter dem Hafen verlief sie am Meer entlang. Die Autos, die mich überholten, fuhren mit großem Abstand vorsichtig an mir vorbei. In der Nähe des Bahnhofs hatte es noch Passanten gegeben, aber nun begegnete ich niemandem mehr. Nach einer Reihe anscheinend leerer Pensionen und Fischlokale gab es nur noch die ansteigende Straße.
Jetzt fiel mir auch ein, an wen mich
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