Am Meer ist es wärmer
1
Jemand folgte mir.
Ob es ein Mann oder eine Frau war, ließ sich nicht ausmachen. Noch zu weit weg. Und wenn schon. Ich ging weiter.
Es war Vormittag, und ich befand mich auf dem Weg von meiner Unterkunft zur Landspitze. Die kleine Pension, in der ich am Abend zuvor abgestiegen war, wurde von einem Paar - dem Alter nach Mutter und Sohn - betrieben. Der Zug brauchte zwei Stunden von Tokio bis hierher. So war es bei meiner Ankunft schon gegen neun gewesen und der Eingang bereits verschlossen. Eingang ist vielleicht zu viel gesagt, es war ein niedriges Eisentor wie bei einem gewöhnlichen Wohnhaus, neben dem sich ein paar magere, knorrige Kiefern wanden. Der Name der Pension stand nicht da, es gab nur ein altes Schild mit dem Zeichen »Suna« - Sand - in Pinselschrift.
»Das ist aber ein ungewöhnlicher Name«, sagte ich zu der Mutter.
»So heißen hier viele«, erwiderte sie.
Der Sohn war schon recht grau, aber kaum älter als Mitte vierzig, also etwa so alt wie ich.
»Mit Frühstück?«, fragte er. Seine Stimme erinnerte mich an jemanden, obwohl ich den Mann ganz sicher zum ersten Mal sah. Aber an wen nur? Es war auch nicht direkt ihr Klang, sondern eher eine gewisse untergründige Schwingung, die mir bekannt vorkam.
Ich verneinte. Er kam hinter der Rezeption hervor und ging mir voran zum letzten Zimmer am Ende des Flurs. »Ich lege Ihnen gleich den Futon aus. Wenn Sie baden wollen - das Ofuro (*) ist im Keller«, erklärte er kurz angebunden. Als er fort war, zog ich die dünnen Vorhänge beiseite. Vor mir lag das Meer. Die Wellen rauschten. Kein Mond. Ich hätte sie gern gesehen und strengte meine Augen an, aber die Straßenbeleuchtung reichte nicht aus. Der Raum war sehr warm. Man hatte ihn wohl schon länger bereit gehalten. Ich öffnete das Fenster, um kühle Luft hereinzulassen.
Das Bad lag im Keller, und es herrschte dämmriges Licht. Hin und wieder fielen Tropfen von der Decke.
Ich dachte an Seiji. Er müsse die Nacht in seinem Büro in Tokio verbringen, hatte er gesagt. Mehrmals schon hatte er mir den Ruheraum in seiner Firma beschrieben, dennoch konnte ich mir nichts Genaues darunter vorstellen.
»Es ist einfach ein kleiner Raum, in dem ein Bett steht«, sagte er. »Wir haben drei davon. Ist einer abgeschlossen, heißt das, es schläft gerade jemand darin.«
Da ich noch nie in einer Firma gearbeitet hatte, malte ich mir eine Art Krankenzimmer aus. Ein Stahlbett mit einer hellbraunen Decke, umgeben von einem Vorhang. Auf dem harten Boden davor, auf dem jeder Schritt hallt, stehen Hausschuhe. Am Kopfende gibt es eine Klingel und eine Fieberkurve.
»Aber nein«, hörte ich Seiji sagen. »Es ist ein ganz gewöhnlicher Raum mit niedriger Decke. Manchmal liegen noch Zeitschriften von anderen Leuten herum.« Er verzog belustigt die Mundwinkel. Denn Seiji lachte lautlos. Das Lachen glitt über sein Gesicht. Anfangs hatte mich das verstört, aber inzwischen war ich daran gewöhnt.
Wenn er dort übernachte, schlafe er immer erst im Morgengrauen ein.
»Bei Tagesanbruch ist es sehr still«, sagte er. »Sobald die Etagenbeleuchtung ausgeschaltet ist, erscheinen alle Geräusche im Gebäude gedämpft. Ich kann noch so erschöpft sein, kaum strecke ich mich auf dem harten Bett aus, bin ich hellwach und kann nicht einschlafen. Als Kind hatte ich ein Ritual, ich habe es ewig nicht gebraucht, aber seit ich öfter im Büro übernachte, wende ich es wieder an. Du musst dir vorstellen, du treibst auf dem Wasser, nicht im Wasser wie beim Schwimmen, sondern so, dass der Körper auf der Wasseroberfläche liegt. Du legst Hinterkopf, Rücken, Po und Fersen sachte auf der glatten Fläche ab und liegst ganz still. Die Teile, die auf dem Wasser ruhen, werden allmählich warm, und du schläfst ein.« Wieder verzog Seiji die Mundwinkel zu seinem lautlosen Lachen.
Im Gegensatz zu Seiji musste ich nicht unbedingt einschlafen und blieb nach dem Baden noch lange wach. Erst als die durch einen Spalt zwischen den Vorhängen sichtbare Schwärze vor dem Fenster in dunkles Blau überging, wurde ich schläfrig. Ob Seiji jetzt auch schlief? Ich löschte das Licht und schloss die Augen.
Es war schon nach neun Uhr, als ich aufwachte, und Tageslicht flutete in mein Zimmer. Die Wellen rauschten lauter als am Abend zuvor. Ich ging an die Rezeption und erkundigte mich nach dem Weg zur Landspitze. Der Sohn nahm ein Blatt Papier und machte mit Bleistift eine Umrissskizze von der Umgebung. In die Mitte zeichnete er den Weg ein.
»Die
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