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Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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Automechaniker geworden. Aber ich war ein kranker Mann, eben von den Toten auferstanden, könnte man sagen …»
    «Was meinen Sie damit, von den Toten auferstanden? Dann ist Ihr Name …»
    «Richtig. Memavet bedeutet ‹ vom Tode›. Die Regierung hier ist scharf drauf, dass Sie Ihren Namen in einen hebräischen umwandeln. Sie zahlen ein Pfund, füllen ein Formular aus, und damit hat sich’s. Wieso sollte ich also weiter einen Namen tragen, den irgendein Kosak meinem Großvater oder Urgroßvater gegeben hat, wenn ich ihn für ein Pfund in einen umändern konnte, der was bedeutet? Ich bin von den Toten auferstanden, also nannte ich mich Memavet.» Er lachte; die Wirkung auf seine Gäste erfreute ihn sichtlich.
    «Sie waren todkrank, meinen Sie das?», bohrte der Rabbi weiter.
    «Nein, ich meine, dass die Russen – möge sie die Sonne nicht mehr bescheinen – mich als tot liegen ließen. Dass der Funke nicht wirklich erloschen war, diese geringfügige Einzelheit übersahen sie. Eine Nationaleigenschaft der Russen – mögen alle ihre Kinder Mädchen sein –, geringfügige Einzelheiten zu übersehen. Amtlich war ich tot.»
    «Das war während des Krieges?», fragte Stedman.
    «Im Zweiten Weltkrieg. Weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, befand ich mich in einem Konzentrationslager. Die übrigen Insassen waren hauptsächlich Polen und ein paar Russen. Ich war der einzige Jude.» Seine Stimme wurde plötzlich nüchtern und schulmeisternd wie die eines Professors, der im Hörsaal doziert. Er sprach Jiddisch. «Die Deutschen sind tüchtig. Wenn sie sich mit sadistischen Grausamkeiten befassen, dann tun sie das gründlich und wirkungsvoll. Der Russe aber ist untüchtig. Seine Grausamkeit kommt großenteils aus Nachlässigkeit und Unfähigkeit. Er vergisst gern geringfügige Einzelheiten wie Essen oder die Kleidung und den Schutzraum, die man für einen russischen Winter braucht. Ich war ein gebildeter Mann, und von denen gab’s nicht viele. Ich war Mechaniker, Ingenieur. Trotzdem wurde ich als Hilfsarbeiter im Freien eingesetzt. Im ersten Monat nahm ich fünfzig Pfund ab. Das Einzige, was mich aufrechterhielt, war die Kenntnis, dass der Besuch des Bezirksarztes bevorstand. Er überprüfte den Gesundheitszustand der Häftlinge, und von seiner Entscheidung hing es ab, welchem Kommando wir zugeteilt wurden, drinnen oder draußen, im allerschlimmsten Fall bei der Waldarbeit. Und er war Jude.»
    Memavet legte den Kopf zurück und schloss die Augen. «Ich sehe ihn jetzt noch vor mir: Dr. Rasnikow aus Pinsk, Wissenschaftler und bewährtes Parteimitglied, die neue Gattung des sozialistischen Paradieses. Sie glauben gar nicht, was es mich gekostet hat, ihn sehen zu können, aber ich schaffte es, gerade lange genug, um ihm zu sagen, dass ich Jude bin und in einem Monat ein toter Mann sein würde, wenn ich weiter im Freien arbeiten müsste. Ich war krank, hatte Fieber, und die einzigen Schuhe, die ich besaß, bestanden aus Stofffetzen, die ich aus meinem Mantel gerissen und um meine Füße gewickelt hatte. Er gab mir keine Antwort, starrte mich nur an. Und ich entfernte mich. Es genügte. Ich erwartete nicht, dass er mir antwortete. Aber er würde sich an mein Gesicht erinnern. Antworten konnte er nicht, weil das auch für ihn gefährlich war.
    Am nächsten Tag stellten wir uns in einer Reihe auf, und er schritt sie ab, legte einem die Hand auf die Stirn, befahl einem anderen, den Mund weit zu öffnen, fühlte einem dritten den Puls. Das war die ganze ärztliche Untersuchung. Ein Adjutant hatte eine Liste, rief die Namen auf und notierte dann seine jeweilige Empfehlung. Dann war ich an der Reihe. Er betrachtete mich prüfend und sagte zu dem Adjutanten: ‹Waldarbeiterkommando.›
    Dieses Sonderkommando musste einen Weg durch den Wald bahnen und dazu Bäume fällen, das Unterholz roden, Baumstämme aufschichten. Weil im Wald gearbeitet wurde, wo theoretisch eine Fluchtmöglichkeit bestand, war die Disziplin brutal. Kleine Gruppen arbeiteten in abgegrenzten Abschnitten. Übertrat einer die Grenzlinie, wurde sofort geschossen. Vor Morgengrauen wurden wir im Laufschritt herausgeführt, arbeiteten bis nach Sonnenuntergang und marschierten dann zurück ins Lager. Wer nicht Schritt halten konnte, wurde geschlagen, und wenn er dann noch nicht mitkam, wurde er erschossen. Jeden Tag kehrten weniger zurück, als weggegangen waren.
    Drei Tage schaffte ich es, und als wir dann am vierten ins Lager zurückgebracht wurden, rutschte

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