Am Montag flog der Rabbi ab
ich aus und fiel hin. Es hatte zu schneien angefangen, und sie hetzten uns gegen den Sturm zurück, als ich stürzte. Der Wächter versetzte mir einen Fußtritt und befahl mir, aufzustehen. Ich versuchte es. Und wie ich es versuchte! Aber meine Knie gaben immer wieder nach. Ein anderer Wächter schrie dem, der über mir stand, zu, er solle sich beeilen. Abermals befahl er mir, aufzustehen, und als ich es nicht schaffte, richtete er sein Gewehr auf mich. Wiederum brüllte der andere Wächter, und meiner drückte ab – gedankenlos, gleichgültig, als wäre ich ein Kaninchen, das über ein offenes Feld rennt.»
«Er schoss auf Sie?»
«Allerdings, er schoss auf mich, und ich glaube nicht, dass er noch einen Blick an mich verschwendet hat. War der Schuss nicht tödlich, würde ich erfrieren – sofern mich nicht vorher die Wölfe erwischten. Er würde den Vorfall im Lager melden, und am nächsten Tag würde man ein Bestattungskommando rausschicken, mich zu holen. Es ist schon sonderbar, aber wissen Sie, was ich als Letztes dachte, bevor ich das Bewusstsein verlor? Wird Dr. Rasnikow jetzt noch glauben, dass ich für das Waldarbeiterkommando tauglich bin?»
«Aber Sie sind doch offensichtlich nicht gestorben», stellte Stedman fest.
«Es war eine Fleischwunde, und vielleicht hat die Kälte das Blut gerinnen lassen. Gefunden hat mich jedenfalls eine alte Bäuerin, die draußen Holz sammelte. Sie hielt mich versteckt und fütterte mich durch, bis ich reisefähig war. Ich brauchte über ein Jahr, ehe ich hier war, und glauben Sie mir, ich hab’s oft bedauert, dass der Schuss nicht tödlich gewesen ist.»
«Dann muss es doch hier das reinste Paradies für Sie sein», sagte Stedman bewegt.
Memavets Gesicht entspannte sich zu einem maskenhaften Lächeln. «Wenn Sie einmal tot gewesen sind, mein Freund, leben Sie einfach von einem Tag zum anderen.» Plötzlich wurde seine Stimme energisch und geschäftsmäßig; er verfiel ins Englische. «Seien Sie heute Abend um sieben hier. Wahrscheinlich habe ich dann einen Wagen für Sie. Aber kommen Sie auch. Ein guter Kauf wartet nicht.»
Draußen fragte Roy: «Was war das für ein langes Gefasel auf Jiddisch? Hat er euch seine Lebensgeschichte erzählt?»
«Nein, die Geschichte seines Todes», antwortete der Rabbi.
«Ach, tatsächlich?» Er sah, dass der Rabbi lächelte, und nahm an, es handle sich um einen Fall von rabbinischem Humor. «Na und …» Er wusste nicht, was er sagen sollte, und wandte sich an seinen Vater. «Ich muss jetzt sausen. Treffen wir uns heute Abend wieder hier?»
«Oh, ich habe nicht die Absicht, heute wiederzukommen», erklärte Stedman.
«Aber …»
«Wenn ich komme», fuhr der ältere Stedman fort, «weiß er, dass wir interessiert sind und geht mit dem Preis hoch.»
«Aber, Dad …»
«Er hat meinen Namen und weiß, wo ich zu erreichen bin. Wenn er was kriegt, ruft er an, worauf du dich verlassen kannst.»
Der Rabbi merkte, dass Roy offensichtlich enttäuscht war, und sprang in die Bresche.
«Ihr Vater kommt am Freitagabend zum Sabbat-Dinner zu uns», sagte er. «Meine Frau und ich würden uns freuen, wenn Sie auch kommen könnten.»
«Vielen Dank. Ich glaube sicher, dass das geht.»
Nachdem Roy sich verabschiedet hatte, bemerkte der Rabbi: «Das war schon eine Geschichte, die Memavet uns da erzählt hat.»
«Kann man wohl sagen, und ich hab das Ganze auf Tonband.»
«Sie haben mitgeschnitten? Es ging also gar nicht darum, einen Wagen zu kaufen?»
«Doch, die Absicht hatte ich schon, aber ich hielt es für angebracht, unser Gespräch aufzuzeichnen. Falls da irgendwas faul dran ist – wenn er zum Beispiel gestohlene Autos verscheuert –, dann würde das Tonband beweisen, dass ich ’ne saubere Weste habe.»
Der Rabbi nickte. Eine Weile gingen sie schweigend weiter, und dann meinte er nachdenklich: «Eine ungeheuerliche Geschichte war das, aber sein Name spricht dafür, dass sie wahrscheinlich stimmt.»
«Ich bin überzeugt davon, dass sie wahr ist, zumindest glaubt er das. Nur ist sie nicht so ungewöhnlich, wie Sie offenbar annehmen, Rabbi. Hier in Israel hat jeder eine Geschichte. Entweder sind sie vor den Nazis geflüchtet, oder sie haben gegen die Araber gekämpft. Praktisch ist es bei jedem ein kleines Wunder, dass er am Leben ist. Wunder gehören hier mit zur Atmosphäre.»
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Dr. Ben Ami, ein Bär von einem Mann, parkte seinen Volkswagen gegenüber dem Erdwall, zwängte sich hinter dem Steuer heraus, nahm dabei die unförmige
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